Piet Wackie Eysten: Zum 100. Geburtstag von Donald A. Prater (1918-2001)

                                                                 
Zweig, Rilke und Mann schauen auf uns herab.

Erinnerungen an den Biografen Donald A. Prater von Piet Wackie Eysten

[Die Originalversion ist hier zu finden.]

Mit Donald Prater, dem Autor maßgebender Biografien über Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig, kam ich im August 1979 in Kontakt. Ich hatte European of Yesterday, seine Zweig-Biografie, gelesen und beim Schreiben eines Artikels über Zweigs Zusammenarbeit mit Richard Strauss dankbar verwendet. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit war die komische Oper von Strauss Die Schweigsame Frau, deren Uraufführung am 24. Juni 1935 in Dresden stattfand. Bald danach wurden im Auftrag Hitlers weitere Aufführungen verboten. Ein Brief von Strauss an seinen jüdischen Librettisten, in dem er abfällig über das NS-Regime gesprochen hatte, war ein paar Tage zuvor von der Gestapo abgefangen und beschlagnahmt worden. Dies führte zu Strauss‘ erzwungenem Rücktritt als Präsident der Reichsmusikkammer, ein Posten, den er in dem Brief ein „ärgerreiches Ehrenamt“ genannt hatte. Mein Artikel über die Herkunft und das Schicksal von Die Schweigsame Frau wurde unter dem Titel Das tragische Schicksal einer Komödie im Jahr 1975 in der Zeitschrift De Gids veröffentlicht.

Dem Briefwechsel zwischen Strauss und Zweig (von Willi Schuh herausgegeben) hatte ich entnommen, dass beide Künstler im Jahr 1931 durch den Verleger Anton Kippenberg zusammengeführt worden waren. In seinem Buch beschrieb Prater aber ein Mittagessen, das Zweig, der nicht nur ein Mann der Literatur, sondern auch ein Mann von Welt war, im Mai 1924 organisiert hatte. Der Anlass dieses Essens war die Anwesenheit des französischen Schriftstellers und Musikwissenschaftlers Romain Rolland in Wien zum Besuch der Strauss-Veranstaltungen anlässlich des 60. Jahrestages des Komponisten. Zweig, ein großer Bewunderer Rollands und mit ihm befreundet, war aus diesem Anlass aus seiner Heimatstadt Salzburg nach Wien gekommen und hatte dort ein Déjeuner „for Strauss and Schnitzler to meet Rolland“ organisiert, wie Prater geschrieben hatte. Ich konnte es nicht mit meiner Annahme in Einklang bringen, dass Strauss und Zweig einander nur ein paar Jahre später, im Jahre 1931, erstmals begegneten und so schrieb ich Prater einen Brief darüber (c/o seinen Verleger, Oxford University Press). Ich teilte ihm mit, dass ich auch in Rollands Journal einen kurzen Bericht vom bewussten Mittagessen gefunden hätte. Darin waren unter anderem Arthur Schnitzler, Paul Stefan, Richard Specht (Strauss‘ späterem Biografen) und Felix Braun als Zweigs Gäste aufgeführt, aber nicht der berühmte bayerische Komponist und Dirigent selbst. Hatte Prater trotzdem Hinweise darauf, dass Zweig und Strauss einander schon früher als 1931 kennengelernt hatten? Ausgeschlossen war es nicht. Aus einem Brief an seine Frau Friderike ging auch hervor, dass Zweig selbst wie auch Rolland, mit dem er am Vortag Sigmund Freud besucht hatte, an den Strauss-Feierlichkeiten teilgenommen hat: „Ich strausse kräftig mit,“ schrieb er ihr.

Postwendend kam Praters Antwort, der Beginn einer, wenn auch nur zeitweiligen, aber in der Tat ganz getreuen Korrespondenz, die zu einer Freundschaft wuchs. „Yes, indeed, you are quite right!“, brachte er seine Antwort auf den Punkt. Prater zeigte sich „most indebted for pointing out that discrepancy over Strauss, Zweig and Rolland“. Es ermöglichte ihm, wie er sagte, dies in der deutschen Ausgabe seines Buches, die in Planung war, zu korrigieren. Er bestätigte, dass er keine Hinweise für ein früheres Treffen zwischen meinen beiden Protagonisten als die vom Jahr 1931 hatte. Sein Fehler ergab sich aus einer Passage in einem Brief von Friderike, die er falsch interpretiert hatte. Es zeichnete Prater aus, dass er sich nicht nur auf die Beantwortung meiner Frage beschränkte. Er dehnte sie auf die Überarbeitung der deutschen  Ausgabe seines Buches aus und schickte mir, so schrieb er,  „as a Gegengabe“, einen kürzlich erschienenen Artikel aus seiner Hand über die Gedichte von Friderike Zweig. Er beendete seinen Brief mit der Ankündigung, dass er vor kurzem einem Antrag stattgegeben hatte, eine Biografie über Rilke zu schreiben, „perhaps rather rashly“, und mit dieser „monumental task“ bereits begonnen hatte. Seine beeindruckende Rilke-Biografie würde 1986 erscheinen.

Praters Brief kam nicht aus England, sondern aus Prangins, einem kleinen Ort am Genfer See. Donald Arthur Prater war ganz und gar britisch. Er wurde 1918 in London geboren und studierte in Oxford Literatur und moderne Sprachen. Er hatte, so hörte ich später, eine abwechslungsreiche und internationale Karriere hinter sich. Nachdem er seiner Heimat während des Krieges als Soldat gedient hatte, folgte eine diplomatische Karriere bis 1969. Danach lehrte er einige Jahre Deutsch als Senior Lecturer an der University of Canterbury, Christchurch, Neuseeland. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er seit ungefähr sechs Jahren  als Übersetzer bei CERN, der  Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf.

Ich hatte Prater eine englische Übersetzung meines Artikels in De Gids geschickt. Darin gab es einen Hinweis auf einen Artikel von Alfred Mathis über Stefan Zweig als Librettist. Dieser Artikel interessierte ihn. Er wusste von seiner Existenz, aber er hatte ihn nie gefunden. Könnte ich ihm vielleicht helfen? Ich schickte ihm eine Kopie des Mathis-Artikels, für den er sich herzlich bedankte („it fills a longstanding gap in my collection“) und ich verband damit eine Anfrage meinerseits. Ich hatte zwar ein Bild von Strauss bei der Arbeit an seiner Oper Die schweigsamen  Frau, aber von Zweig hatte ich kein Bild aus der Zeit, in der er mit Strauss zusammengearbeitet hatte. Könnte Prater mir helfen? Wieder antwortete er wie aus der Pistole geschossen: „A strange coincidence ,“ schrieb er. Er wollte gerade Material für eine Bildbiographie über Stefan Zweig (Stefan Zweig. Leben und Werk im Bild) sammeln, die als Insel-Taschenbuch im Zweig-Jahr 1981, zu Zweigs hundertstem Geburtstag, erscheinen sollte.  „Thus I think I can send you the very photograph you want: one taken by Suse von Winternitz (Friderike’s daughter and a professional photographer) about 1932“. Er hatte mehrere andere Fotografien aus den Jahren 1934-1940, „but this would easily be the best“. Bei der Veröffentlichung meines Buches Bruiloft zonder zegen (1981)[1] habe ich dieses Bild dankbar berücksichtigt.

Wenn ich jetzt diese alten Briefe durch meine Hände gleiten lasse, wird mir das Tempo bewusst, in dem wir einander geschrieben haben. Vielleicht ist es bezeichnend für unsere gegenseitige Begeisterung. Zwischen meinem ersten Brief an Oxford University Press und der Übersendung von Suse von Winternitz‘ Foto war kaum ein Monat vergangen.

Praters letzter Brief enthielt wieder eine Anfrage: „Zweig in the Netherlands does not, unfortunately, make a very big chapter in his life“ schrieb er, aber vielleicht könnte ich etwas für die Bildbiographie liefern? Der einzige ihm bekannte Besuch von Zweig in den Niederlanden hatte im März 1929 stattgefunden, als Zweig in Utrecht einen Vortrag über die „Europäische Idee“ in der Literatur gehalten hatte. Aber bei dieser Gelegenheit wären wahrscheinlich keine Fotos gemacht worden, vermutete er. Ich ging sofort an die Arbeit, fand aber keine anderen Hinweise auf Zweigs Vortrag in Utrecht als die persönliche Erinnerung  eines älteren Bürokollegen, der als Student bei dem Vortrag war, aber leider während der Vorlesung eingeschlafen war. Durch den Stadtarchivar von Den Haag erfuhr ich aber, dass Zweig die Buchhandlung Dijkhoffz an „De Plaats“ in Den Haag besucht und eigene Bücher signiert hatte („Büchersignieren, eine neue Vortragsplage“, schrieb er an seine Frau). Das Nieuwsblad voor de Boekhandel hatte einen Artikel darüber publiziert. Herr P. J. Veneman, zu dieser Zeit Besitzer der heute leider nicht mehr existierenden Buchhandlung Dijkhoffz, glaubte sich zu erinnern, auf seinem Dachboden ein Bild von dieser Autogrammstunde zu haben. Ich durfte eine Kopie davon machen und schickte sie Prater. „What a marvellous find!,“ jubelte er in seiner Antwort. „I am deeply grateful to you for that photograph: completely unknown and very typical of SZ at that time, particularly with the two young girls waiting eagerly for him to sign their copies.“  Das Bild bekam einen prominenten Platz in der Bildbiographie. Es war „quite the best and most natural in the book“ befand Donald, der inzwischen  einen Aufsatz über den Briefwechsel zwischen Zweig und Hermann Hesse begonnen hatte.

Im Zweig-Jahr 1981 erschien Praters Biographie in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel Stefan Zweig. Das Leben eines Ungeduldigen mit vielen neuen Daten und Erkenntnissen über Leben und Werk von Zweig. Er schickte mir ein Exemplar, wofür ich ihm natürlich sofort dankte. „I feel more than a little embarrassed by you mentioning me in your Vorwort„, schrieb ich ihm. Die „wertvolle Hilfe“, die er erwähnte, war meiner Meinung nicht der Rede wert. Kurze Zeit später schickte er mir ein Exemplar von Stefan Zweig. Leben und Werk im Bild. Ich empfing das Buch um das Datum von Zweigs hundertstem  Geburtstag, am 28. November 1981. Prater reiste in diesem Jahr unter anderem nach Wien, um an einem Zweig-Symposium teilzunehmen. Er versprach mir eine Kopie seines Vortrag, „when (or rather if, knowing the Austrians) it appears“.

Als ich im Frühjahr 1982, auf der Rückfahrt von unserem Winterurlaub in der Schweiz, mit meiner Frau und unseren beiden Kindern ihn und seine Frau Patricia zum ersten Mal besuchte, waren sie gerade erst nach Gingins, einem Ort in der Nähe von Nyon, umgezogen. Ich betrat zum ersten Mal seinen  Arbeitsraum, oder besser gesagt sein Dachstudio. Dieses literarische Labor erstreckte sich über die gesamte obere Etage des in Richtung Berge gebauten Hauses, mit Fenstern an beiden Seiten. Das gab dem Raum eine Klarheit und Weite, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterließ. An den schrägen Wänden dieses Dachgeschossraumes waren Poster und Plakate mit den Porträts der Großen der Weltliteratur befestigt. Marcel Proust, Hermann Hesse, Thomas Mann und Stefan Zweig blickten auf uns herab. Der Raum gliederte sich in Abschnitte, getrennt durch  Bücherregale, senkrecht zu den Wänden, so dass sie auf beiden Seiten zugänglich waren und nicht bis an die Decke reichten, wodurch der Raum als Ganzes erhalten blieb. Dazwischen standen Schreibtische und Aktenschränke voller Bücher, Papiere, Ordner und Dateien. Es konnte keinem  entgehen, dass dies der Arbeitsplatz eines eingefleischten Pfeifenrauchers war. Prater zeigte mir seine systematische Vorgehensweise bei seiner Arbeit: systematisch nach Thema eingelegte  Karteikarten mit Bezug auf relevante Belegstellen und verwandte Themen, durch  Farben und Zahlen gekennzeichnete Ordner mit Kopien der Originaldokumente, Briefe, etc. Einem der Aktenschränke entnahm er einen Teil des Manuskripts von Zweigs Tagebüchern in Fotokopie, unverzichtbares Arbeitsmaterial für seine ausführliche Biografie. Ich konnte jetzt verstehen, was Patricia über Zweig als Mitbewohner gesagt hatte. Während Donalds Arbeit an der Biografie hatte sie mehr und mehr das Gefühl, dass Zweig im Haus anwesend war. Nur seine Stimme fehlte, aber sonst war seine Gegenwart stets spürbar gewesen. Ich konnte mir das in diesem unvergesslichen Dachstudio sehr gut vorstellen.

Wir hatten vor meinem Besuch in Donalds Heiligtum mit unseren Frauen und den Kindern Tee getrunken, was ohne Zweifel im englischsten Wohnzimmer in der Schweiz gewesen sein muss. Englischen Tee, wohlverstanden, mit allem was dazugehört. Sehr zur Belustigung der Kinder, die gerne die verschiedenen Köstlichkeiten genossen hatten, bekam der Hund, ein Spaniel, dessen Namen ich vergessen habe, Tee in einer chinesischen blauen Tasse, die für ihn auf den Boden gestellt worden war. Ein Ritual, das sich später einige Male wiederholen sollte. Patricia, oder Pat, wie wir bald sagen durften, war eine vorbildliche Gastgeberin. Sie war klein von Statur, elegant in Kleidung und Gestik, von einer etwas förmlichen Höflichkeit, die dennoch echtes Interesse und Wärme ausstrahlte. Donald selbst, mehr als zwanzig Jahre älter als ich, zeigte die gleiche spontane Wärme, die ich  bereits aus seinen Briefen kannte. Mit seinem etwas philosophischen Lächeln, seinen hellen Augen, dem adretten Schnurrbart, unzertrennlich mit Pfeife und Tweed-Jacke, überließ er die Regie des Nachmittagstees seiner Frau Pat, was ihn aber nicht daran hinderte, ihre Geschichten manchmal zu korrigieren oder zu erläutern, auf ihre Fragen Details zu bestätigen oder zu ergänzen. Obwohl dies unser erstes Treffen war, hatten wir das Gefühl – ich glaube, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte – dass wir einander schon länger  und nicht erst seit heute kannten.

Zum Zeitpunkt unseres Besuches hatte Prater seine Aufmerksamkeit nun hauptsächlich auf seine Rilke-Biografie, der „monumental task“, gerichtet, die er einige Jahre zuvor begonnen hatte. Damit rückte die Aufmerksamkeit für das Thema „Zweig in den Niederlanden“ in den Hintergrund (auch für mich). Allerdings wurde es unerwartet wieder zum Leben erweckt, nachdem ich in die Niederlande zurückgekehrt war und ein Interview  mit  Siegfried E. van Praag las. In diesem Interview erzählt Van Praag von seinen Kontakten und seiner Korrespondenz mit Stefan Zweig. In diesem  Artikel war eine von Zweig an Van Praag gerichtete Notiz abgebildet, in der Zweig schreibt, dass er bald („im März“) in Utrecht einen Vortrag halten würde und hofft, Van Praag „im Vorüberkommen dankbar die Hand schütteln zu dürfen“ und „einige Holländische Kameraden persönlich kennen zu lernen“. Ich wagte es,  Herrn Van Praag, der damals 82 Jahre alt war und in Brüssel lebte, zu schreiben und ihn zu fragen, ob er mir über diesen Besuch und über seine Beziehungen zu Zweig mehr Details geben könnte. Ich erhielt  eine umfangreiche, aber etwas enttäuschende Antwort. Van Praag erinnerte sich nicht an einen Besuch von Zweig in den Niederlanden, aber er erzählte allerlei interessante Details über seinen Kontakt mit Zweig, bei dem er mit seiner Frau auf dem erhabenen Kapuzinerberg in Salzburg zu Gast war. Aber diese Kontakte datierten vor allem aus einer späteren Zeit.

Ich berichtete Donald, was mir Siegfried van Praag erzählt hatte. Obwohl seine Aufmerksamkeit nun natürlich in erster Linie Rilke galt, brannte er darauf, sich wieder um „Zweig in den Niederlanden“ zu kümmern. Er war „thrilled“, ließ er mich wissen, von den Informationen von Van Praag, „a name quite unknown to me so far. I wish I could help with more detail!“

Dieser letzte Wunsch ging in gewisser Weise in Erfüllung. In der Schweiz hatte Prater Kontakt mit Lee van Dovski (eigentlich Herbert Lewandowski), der vor dem Krieg lange in Holland gelebt hatte und nach drohender Kriegsgefahr über Frankreich in die Schweiz geflohen war. Er stand mit mehreren deutschen Schriftstellern in Kontakt, darunter Thomas Mann, Jakob Wassermann und Stefan Zweig. Von Lee van Dovski erhielt ich im Mai 1982 über Donald Prater einen teilweise in makellosem Niederländisch geschriebenen Brief, in dem er berichtete, dass er sich damals in Utrecht aufgehalten habe und dort als stellvertretender Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft“ tätig gewesen war. In dieser Eigenschaft hatte er im Jahre 1929 Stefan Zweig und Jakob Wassermann eingeladen, um Vorträge in Utrecht zu halten. „Stefan Zweig sprach über ‚Pan-Europa‘. Nach dem Vortrag saßen wir rund um ihn herum und plauderten noch ein wenig. Eine Einladung, mit mir Amsterdam zu besichtigen, musste Zweig ablehnen, da er einen weiteren Vortrag in Den Haag halten musste“, schrieb mir Lee van Dovski. Ich dankte ihm und Donald und kam zu dem Schluss, dass Zweigs Besuch in Holland nur sehr kurz gewesen und wahrscheinlich der einzige war, den er unserem Land abgestattet hätte. Letzteres bestätigte mir Donald in einem  Brief vom  24. Mai 1982: „As you say, the 1929 visit was brief and I don’t think SZ ever made another.“

Die lang ersehnte Rilke-Biografie erschien Anfang 1986, deren Titel, A Ringing Glass, von einem Vers aus Rilkes Sonette an Orpheus, „sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug“, inspiriert wurde. Der englischen folgte dicht die deutsche Ausgabe, Ein klingendes Glas. It must be a relief to have the job done,“ schrieb  ich Donald. Ich erhielt eine ziemlich umfassende Antwort.  „OUP [Oxford University Press] are asking what my next is to be“, schrieb er. „I haven‘t decided yet, maybe Werfel. First comes a bit of a rest!“ Der Weihnachtskarte, die wir im Dezember 1986 erhielten, konnten wir entnehmen, dass er die Ruhe bei seinem Sohn in Neuseeland suchte, wo er und Pat bis Februar 1987 blieben: ‚l’année sans hiver‘.

Die Intervalle in unserer Korrespondenz wuchsen, aber in einer Freundschaft, die so stark wie die unsrige geworden war, stellten sie keinen  Grund zur Besorgnis dar. „It was good to hear from you,“ schrieb er, „I fear I have been a dilatory correspondent.“ Ich habe die schönsten englischen Wörter von ihm gelernt. Er hatte mittlerweile mit der nächsten Biografie begonnen, nicht über Franz Werfel, sondern über Thomas Mann, “ a monster task that will at least take 5 years“. In der Zwischenzeit beschäftigten auch andere Pläne diesen unermüdlichen Schriftsteller. Er hatte in Brüssel Gespräche über eine Edition der Korrespondenz zwischen Zweig und Emile Verhaeren geführt und in Paris La Foire du Livre besucht. Da hat er tatsächlich eigene Werke signieren müssen. Inzwischen hatte er angefangen, die Werke von Thomas Mann zu lesen und wieder zu lesen, „most of which I confess are new to me,“ schrieb er etwas zu meiner Überraschung. „I hope to settle down now to solid work on it“.

Dieser neuen Tätigkeit von Donald eröffnete die Perspektive eines Besuchs in die Niederlande.  (Diese neue Tätigkeit von Donald eröffnete die Aussicht /Perspektive eines Besuches in den Niederlanden). Bis dahin hatte ich es nicht geschafft, ihn dazu zu verleiten. „My research journeys should bring me to Holland at some stage, where he often visited, probably next year when I have a clearer idea of the outline of his life.“ Sollte ich daraus entnehmen,  dass er diese neue Aufgabe scheute? „Mann is going to be a very different proposition from SZ and Rilke! Still – I know the period pretty well and it will be fascinating to see how it works out.“

Donald war unermüdlich, nicht nur in seiner Arbeit. Anfang 1990 bekam ich einen ausführlichen Brief von ihm aus Christchurch, wohin er und Pat mit dem Schiff  („a floating hotel „) aus Southampton gereist waren. Ihre beiden Söhne lebten dort und seit seinem letzten Besuch waren dort vier weitere Enkelkinder geboren. Die Reise hatte ihn „some much needed leisure for TM reading“ verschafft. Die Rückreise, die er beschrieb, war beeindruckend. Sie ging durch die Vereinigten Staaten („to see TM’s Californian houses“), wo er einen Vortrag in Los Angeles und dann in Philadelphia, Boston und einigen anderen Städten geben würde. Danach würde er nach Halifax in Kanada reisen, um Elizabeth Borghese-Mann, Thomas Manns einzige lebende, jüngste Tochter zu besuchen. „It will be an exhausting but I hope rewarding trip. After which I have to settle down to real work on the book. “ Ich sah vor mir die großen Arbeitstische im Dachgeschoss in Gingins.

Dieses Mal war ich der „dilatory correspondent“. Mein  Brief an Donald vom 2. April 1991 zeigt, dass ich ihm lange Zeit nicht geschrieben hatte. Ich berichtete ihm anlässlich eines Artikels in einer niederländischen Zeitung über die Veröffentlichung von Manns Tagebüchern 1946-1948. Der Tenor dieses Artikels  war, dass diese Tagebücher extrem uninteressant waren, weil Manns Leben tatsächlich extrem uninteressant gewesen war. Es ist für diejenigen, die sein Leben etwas kennen, eine fragwürdige Beobachtung, jedoch eine Vision, die ich meiner Meinung nach dem Biografen Manns nicht vorenthalten konnte. In seiner Antwort ging Donald ausführlich auf die Behauptung ein, Mann hätte ein uninteressantes Leben geführt, was er ein ‚misjudgement‘, eine  Fehleinschätzung nannte.  Obwohl Mann den  Eindruck von ruhigem Selbstbewusstsein erweckt hatte, zeigten genau die Tagebücher, meinte er, „how he actually felt“. Er verwies auf das „Leiden an Deutschland“, dem Mann in seinen Schriften gegen Hitler und in seinem Doktor Faustus Ausdruck gab. „No“, entschied er sich, „I think I can make a fascinating story of it all.“

Das Zweig-Jahr 1992, 50 Jahre nach Zweigs Todestag, bedeutete eine unvermeidliche Pause in seiner Arbeit an der Thomas Mann-Biografie. Er schrieb mir ausführlich und begeistert darüber, in einer Mischung von Deutsch und  Englisch, „SZ has proved a big, but of course a very worthwhile  interruption to  the Hauptgeschäft of TM .“ Er hielt in Wien, Salzburg, Hohenems und München Vorlesungen, musste die  Einleitung zum Katalog der Ausstellung in Salzburg und Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften und Symposien schreiben. Sein Vortrag im Wiener Rathaus im Februar wurde in einem separaten Band zu seinem großen Ärger mit einem falschen Titel veröffentlicht. Was er „Stefan Zweig und das Wien von gestern“ genannt hatte, erschien als Stefan Zweig und die Welt von gestern, dem Titel von Zweigs eigenen Memoiren. „The exhibition is tremendously exciting, with lots of hitherto unseen material, you simply must see it if you can!“, schrieb er mir. Das habe ich dann auch getan. Es war in der Tat eine sehr informative Ausstellung, mit unzähligen Fotos, Briefen, Manuskripten, Artikeln, Erstausgaben und so weiter. Was mir am eindrucksvollsten davon geblieben ist, war endlich einmal die Stimme Zweigs zu hören. Die Stimme, die Pat so schmerzlich vermisst hatte in ihrem täglichen Umgang mit dem Mann, der sich allmählich zu Donalds Alter Ego entwickelt hatte. In einer Kabine konnte man über Kopfhörer einen  Radio-Vortrag von Zweig hören. Zweig sprach mit einer hohen und etwas zu ausdrücklichen Stimme zu seiner  Zuhörerschaft. Es war ein seltsames Gefühl, in der Abgeschiedenheit der kleinen Kabine den Vortrag zu hören.

Wieder wurde die Arbeit an seiner Mann-Biographie unterbrochen, diesmal von einem lähmenden Anfall rheumatischer Muskelschmerzen wie er in einem seiner Briefe erwähnte.  Er  vermutete große Probleme für die rechtzeitigen Fertigstellung des Manuskripts („only a third of the way along!“). Auf seiner Weihnachtskarte von 1992 schrieb er: „TM coming along slowly, hope to have it done by July or so,“ was eine Überschreitung von sechs Monaten über die ursprüngliche Frist bedeutete.

Es wurde 1995 ehe Donalds große Thomas Mann-Biografie, sowohl in Englisch bei Oxford University Press als auch auf Deutsch im Hanser Verlag, erschienen ist. Er schrieb mir, dass er sich mit dem Gedanken versöhnt habe, nur noch kleinere Projekte zu machen. “Th. Mann will have to be the last major biography.” Er hielt hier und da noch immer eine Rede oder einen Vortrag, „but otherwise not much“. Seine Gesundheit begann immer mehr zu wünschen übrig zu lassen, er wurde erneut operiert. Seine und Pats Rückkehr nach England, wo sie ihren Lebensabend in der Nähe ihrer Tochter in Cambridge verbringen wollten, musste verschoben werden. Wie er es so oft in unserer Korrespondenz getan hatte, bestand er wieder darauf, ihn in Gingins zu besuchen, „while  we  are still here. Maybe your multifarious interests will bring you this way“,  schrieb er. Ich lernte weiterhin neue Wörter von ihm.

Ich besuchte Donald und Pat in Januar 1998 kurz nach seinem 80. Geburtstag von unserem Wintersportort Morzine aus. Ich traf beide alt geworden an, aber Donald war der liebenswerte, gutmütige, gelehrte, intelligente Mann geblieben, der er immer gewesen war. Zweig war, wie es nicht anders hätte sein können, unser Hauptgesprächsthema. Ich gestand, dass ich einige der Geschichten, die ich gerade gelesen hatte, für überholt hielte. Er verneinte es nicht. Einige dieser Geschichten fand auch er „schwach“. Ich bekam bei dieser Gelegenheit die deutsche Ausgabe der Rilke-Biografie von ihm: „For my old friend on the occasion of his visit to Gingins after so many years“, schrieb er auf der Titelseite. Unermüdlich arbeitete er an der Korrespondenz zwischen Rilke und Jean Strohl, einem Schweizer Gelehrten, mit dem Rilke befreundet war und an den er das Manuskript seiner in einem unwahrscheinlichen Blitz von Inspiration geschriebenen ersten Sonette an Orpheus, (Rilke schrieb die ersten 25 Sonette in drei Tagen!) geschickt hatte. So verbrachten wir wie früher einige Zeit in seinem Dachgeschoss-Studio unter den Porträts seiner Helden, während Pat unten im Haus den Nachmittagstee vorbereitete.

Mein letzter Besuch bei Donald und Pat fand im Februar 2001 statt. Sie waren jetzt nach Cambridge umgezogen, wo sie ein kleines Haus am Rande der Stadt bewohnten, in der angenehmen Sicherheit in der Nähe ihrer Tochter zu sein, die als Archäologin an der Universität beschäftigt war. Beide waren alt und schwach, Donald ging, Fuß für Fuß, auf zwei Krücken. Er zeigte mir sein kleines Arbeitszimmer im Erdgeschoss, wo der Computer zwischen den Stapeln von Büchern und Papieren versteckt war. Es war ein herzerwärmendes Wiedersehen. Die Blumen, die ich für Pat mitgebracht hatte, waren mitten auf den kleinen Tisch gestellt, so dass wir einander kaum mehr sehen konnten. Donald sagte nicht viel, es schien ihm zu genügen, meiner  Anwesenheit sicher zu sein und mich ständig strahlend anzublicken. Pat versicherte mir, dass  Donald es liebte,  sich mit  jemandem über seine Helden Zweig, Rilke und Mann unterhalten zu können.

Ich brachte Manns Homosexualität zur Sprache, worüber wir etwa zwei Jahre zuvor bereits gesprochen hatten, als ich im Vorwort zu einer Neuauflage von Gore Vidals The City and the Pillar auf eine bemerkenswerte Passage gestoßen war. Vidal schrieb darin, dass ihn kürzlich „der Biograf von Thomas Mann“  angerufen und ihn gefragt hatte, ob er wüsste, welchen tiefen Eindruck sein Buch beim Erscheinen im Jahr 1948 auf Mann gemacht hätte. Mann, der damals noch in Kalifornien lebte und im Begriffe war, seine Arbeit an Felix Krull forzusetzen, hätte darüber in seinen Tagebüchern, die 1997 in Deutschland veröffentlicht worden waren, etwas geschrieben. „Get them“ hätte der Biograf zu Vidal gesagt. Vidal war nach der Lektüre dieser Passagen erstaunt, was der einundzwanzigjähriger Mann-Verehrer, der er damals war, in dem fünfundsiebzigjährigen Meister ausgelöst hatte. In seinem Vorwort zitierte Vidal einige Passagen aus Manns Tagebüchern, die in der Tat eine heftige Emotion zeigen, aber auch eine instinktive Abneigung. Mann nennt in diesen Tagebucheinträgen Vidals „homo-erotischem Roman“, und insbesondere „die Liebesspielszenen zwischen Jim und Bob ganz ausgezeichnet“, aber auf der anderen Seite ist „das Sexuelle, die Affairen mit den div. Herren [ihm] eben doch unbegreiflich. Wie kann man mit Herren schlafen… “ Eine Woche später, als er das Buch durchgelesen hat, räumt er ein „ergriffen zu sein obgleich manches fehlerhaft und unsympathisch [ist], z.B. hässlich, dass Jim Bob in New York in eine Fairy Bar führt“. Auch war auffällig, dass Vidal in seinem Vorwort erklärt, dass er „deliberately made Jim Willard (Hauptfigur seines Buches) a Hans Castrop Typ (Hauptfigur in Manns Der Zauberberg)“.

Sobald ich dies gelesen hatte, schrieb ich selbstverständlich an Donald, um zu fragen, ob er es gewesen wäre, der Vidal angerufen hatte, was mir höchst unwahrscheinlich schien.  „Calling Vidal by phone does not sound like you somehow,“ schrieb ich. Die Antwort kam postwendend: „No, it wasn’t I who phoned Vidal!”. Er verwies mich an die Stellen, wo er in seiner Biografie die gleichen Passagen aus Manns Tagebüchern zitiert hatte, und fügte hinzu: „I didn‘t elaborate further, for it was my aim not to over-stress TM’s homoerotic tendencies“. Es ist für ein gutes Verständnis von Donald Praters Deutung vielleicht interessant, einige Passagen aus diesem Brief etwas ausführlicher zu zitieren. „To my mind,“ schrieb Prater,

„this aspect of a man who after all produced six children has been greatly overplayed, notably by Ronald Hayman (author of a Mann biography in 1995) and more recently by Anthony Heilbut (TM: Eros and Literature). I suspect the latter of being the phone-caller Vidal mentions. The subject is one more for ‘revelations’ of investigative journalists than for a serious biographer. As I still haven’t read the novel – and don’t think I will now – I can’t say whether Jim Willard is like Hans Castrop, whom I confess I never saw as a homosexual […].

Perhaps my attitude was too blinkered, but I thought it more balanced and nearer the truth for a narrative like mine, particularly bearing in mind TM’s expressed suppression of the physical side.[…]. We must talk all this over when we next meet, which I hope will be possible one day this coming year.”

Bei unserem Gespräch, zwei Jahre später in Cambridge, bestätigte Donald, dass diesem Aspekt in Manns Leben seiner Meinung nach eine überproportionale Bedeutung beigemessen wurde. Bücher wie das von Heilbut fand er einseitig und stark vereinfacht. „Mann war immerhin“, wie Donald wiederholte, „der Vater von sechs Kindern!“ Ich fand das bemerkenswert, vor allem vor dem Hintergrund dessen, was er selbst in seiner Biografie zu diesem Thema geschrieben hatte und abgesehen davon, wenig stichhaltig achtete. Wir beließen es damit. Ich verließ sie nach ein paar Stunden, in denen wir, wie üblich, Pats ausgiebigen Tee genossen hatten, die beiden in der offenen Haustür zum Abschied winkend, mit dem berührenden Gefühl, dass ich Donald wahrscheinlich zum letzten Mal gesehen hatte .

Kaum war ich in die Niederlande zurückgekehrt, als ich einen Brief von ihm vorfand, den letzten, den ich von ihm bekam. „It really was a tremendous pleasure to see you here, after all this time, and now I’m back in the accustomed slow groove I felt I just had to write a short note”. Er schickte mir – ich hatte das vorherige Exemplar verloren – wieder das Buch Stefan Zweig und das Wien von gestern („which got wrongly titled with typical Austrian Schlamperei before I saw it!“, er konnte nicht umhin dies wieder zu bemerken, er hatte seine alte Schärfe noch nicht verloren). Pat, so schrieb er, würde mir noch extra danken „for those marvellous tulips, which she has spread around in even more vases and which are giving us great pleasure“.  Er beendete sein Schreiben, „typewritten“ um mich vor seinem „present handwriting“ zu retten, mit „renewed thanks and warmest greetings“, mit zittriger Hand unterzeichnet: „As ever, Donald.“ In einer beigefügten Karte von Pat, mit wiederholten Dank für die Blumen, stand: “It was good for Donald to talk again to an old friend.”

Sechs Monate später erhielt ich eine gedruckte Karte mit der Nachricht, dass Donald Prater OBE[2], D.Litt.,[3]  Soldier, Diplomate, Writer, Musician, am 24. August 2001 in Cambridge  friedlich eingeschlafen war.

 

[1] P.A. Wackie Eysten: Bruiloft zonder zegen. Drie opstellen over opera’s van Mozart, Mendelssohn en Richard Strauss. Groningen, Uitgeverij Ricercare 1981. (Hochzeit ohne Segen. Drei Aufsätze über Opern von Mozart, Mendelssohn und Richard Strauss)

[2] Officer of the Order of the British Empire

[3] Doctor of Letters

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.