„Kein Vaterland jenseits der Menschheit“: Ein Saarbrückener Abend rund um Stefan Zweig und Frans Masereel

Hundert Jahre nach dem Erstdruck im Leipziger Insel Verlag hat die Büchergilde Gutenberg in einer dem Originalformat folgenden Ausgabe Zweigs Weltkriegsnovelle „Der Zwang“ mit den Holzschnittillustrationen Frans Masereels neu herausgegeben.

Die feierliche Abendveranstaltung am 27. Februar 2020, mit der die Frans Masereel Stiftung, gemeinsam mit der Buchhandlung St. Johann, der SPD-Fraktion Saarland, der Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung sowie dem Ministerium für Bildung und Kultur im Saarland, diese wichtige Neuauflage begangen hat, war eines hundertsten Geburtstages durchaus würdig: Vor einem Publikum von rund 180 BesucherInnen widmete sie im Saarbrückener Pingusson-Bau ein buntes Programm jenem Text, der, wie an diesem Abend zu lernen war, nicht nur vom Ersten Weltkrieg erzählt, sondern auch vom Pazifismus und der Freundschaft zwischen dem österreichischen Erfolgsautor und dem belgischen Künstler.

Der Zwang ist die Geschichte eines deutschen Malers im Schweizer Exil, der nach Erhalt seines Einberufungsbefehls in eine tiefe Krise stürzt, und schließlich, anhand der Begegnung mit einem verletzten Kriegsrückkehrer französischer Nationalität, zur Kriegsopposition und zum Ideal nationenübergreifender Menschlichkeit zurückfindet. So war denn auch der grenzüberschreitende Humanismus das große Thema des Abends. Peter Riede, Präsident der Frans Masereel Stiftung, nannte das neu aufgelegte Werk in seinen Einführungsworten einen „Grundtext der Völkerverständigung“, der bis heute „nichts an seiner Aktualität eingebüßt“ habe. Ulrich Commerçon, Fraktionsvorsitzender der SPD Saar, bekräftigte dies: Auch und
gerade in heutigen Zeiten müsse das Ideal einer Verständigung zwischen den Menschen und die Idee gesellschaftlicher Solidarität immer wieder in Erinnerung gerufen werden.

Einen Blick auf die Entstehungsbedingungen der Freundschaft zwischen Zweig und Masereel warf im Anschluss die Literaturhistorikerin Julia Rebecca Glunk (Freiburg i.Br.). Die beiden Männer hatten sich 1917 in Genf innerhalb einer pazifistischen Künstlergruppe kennengelernt und dieses Erlebnis ihr Leben lang als wichtigen Wendepunkt empfunden. In ihrem Vortrag veranschaulichte Glunk, die derzeit an einer historisch-kritischen Edition des Briefwechsels zwischen Zweig und Masereel arbeitet, die pazifistischen Werdegänge beider Künstler und bezog diese im Anschluss auf Handlung und Aussage der Weltkriegsnovelle. „Das Kämpferische an diesem vielschichtigen Text“, so schloss sie, sei „der gemeinsame Aufruf seiner beiden Urheber zur Überwindung von Grenzen, ein Schillersches Alle Menschen werden
Brüder, wie wir es heute nicht ohne Grund als europäische Hymne singen.“

Es folgte eine Vorführung des berühmten Films von Alfred E. Ohnesorg und Wolf W.
Habermehl von 1956, der unter dem Titel Gedanken zum Werk Frans Masereels den fast siebzigjährigen Künstler in seinem Nizzaer Atelier, unter anderem beim Schneiden eines Holzschnittes, zeigt. Dass die beiden Filmemacher ehemalige Schüler Frans Masereels waren, der im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg vier Jahre lang an der neuen Saarbrückener Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk gelehrt hatte, wies dabei auf schöne Weise direkt zum Veranstaltungsort zurück.

An das Einmalige in der Kooperation von Schriftsteller und Illustrator erinnerte schließlich der eigentliche Hauptpunkt des Abends: Katharina Bihler und Élodie Brochier vom Liquid Penguin Ensemble ließen in einer multimedialen Lesung der Novelle das Zusammenspiel von Text und Bild in einem völlig neuen Licht erscheinen. Mithilfe eines Video-Projektors, der den Werktisch Brochiers auf eine große Leinwand projizierte, wurden die Holzschnitte Masereels vor den Augen des faszinierten Publikums zum Leben erweckt, dekonstruiert und neu zusammengesetzt, während Bihler die dazugehörigen Passagen der Geschichte in einmaliger Weise und vor experimenteller Klangkulisse zu Gehör brachte. Und so endete ein reichhaltiger
Abend mit der Hommage an die wahrhaft meisterhaften Illustrationen des Holzschneiders, im Zusammenspiel mit einem wahrhaft noch heute lebendigen Text.

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