Hier weisen wir auf zwei neue Bücher von Brigitte Vergne-Cain und Gérard Rudent (Paris), Mitglieder unserer Gesellschaft, hin, die sich literarischen und politische Essays und Artikeln Stefan Zweigs widmen.
„Pas de défaite pour l’esprit libre, Écrits politiques – Inédits 1911-1942“ (dt. „Keine Niederlage für den freien Geist, unveröffentlichte politische Schriften, 1911-1942“), 2020 im Verlag Albin Michel in Paris erschienen und „Ecrits littéraires: D’Homère à Tolstoï – Inédits (1902-1933)“ (dt. „Unveröffentlichte literarische Schriften: Von Homer bis Tolstoi – (1902-1933)“), 2021 ebenfalls bei Albin Michel publiziert. Bei beiden Büchern stammen Vorwort, Übersetzung aus dem Deutschen und Anmerkungen von Brigitte Cain-Hérudent.
Die angesehene Zeitschrift La Revue des Deux Mondes bringt dazu in der Ausgabe Dezember 2021/Jänner 2022 ein Stefan Zweig-Dossier, betitelt: „Aus der ‚Welt von Gestern‘ lernen“. In ihrem Aufsatz „Stefan Zweig: La nouvelle donne“ berichten Brigitte Vergne-Cain und Gérard Rudent über die oben genannten Bücher.
Für die „Internationale Stefan Zweig Gesellschaft“ stellten uns die zwei Autoren, beide Mitglieder unserer Gesellschaft, eine freie deutsche Übersetzung des Artikels zu Verfügung. Wir danken ihnen sehr herzlich für ihre Übersetzung. Herzlichen Dank auch an die Redaktion der Revue des Deux Mondes für ihre freundliche Erlaubnis, diesen Text auf unserer Webseite zu veröffentlichen.
Stefan Zweig: Die neue Konstellation
Brigitte Vergne Cain und Gérard Rudent, Paris
Als wir 2016 und 2017 kurz nach ihrer Veröffentlichung die vier kleinen eleganten Stefan-Zweig-Bände des österreichischen Roesner-Verlags entdeckten, die insgesamt dreiund-neunzig kaum bekannte, oder quasi verschollene Essays des berühmten Autors darboten, waren wir entzückt! Auch wenn wir in den 1990er Jahren eine breite Auswahl von Stefan Zweigs Romanen und Erzählungen in zwei umfangreichen Bänden der Reihe La Pochothèque für die französischsprachigen Leser neu ediert und eingeführt hatten[1], war uns der hier vorliegende Schatz völlig neu. Sofort stand unsere Überzeugung fest: die französischen Leser, ohnehin lebhaft an Stefan Zweig interessiert, sollten diese ganz anderen Texte übermittelt bekommen, die das durchaus positive, doch leicht erstarrte Bild des großen Europäers der Welt von gestern entschieden erneuern.
Denn es tauchten bei ROESNER EDITION[2] tatsächlich vergessene, verschollene Essays und Artikel wieder auf, die seit ihrer Erstveröffentlichung in Zeitungen oder Zeitschriften nie wieder publiziert wurden, noch je in Buchform erschienen waren.[3]
Es begann eine langatmige Arbeit, die aber so viele Entdeckungen ermöglichte, dass Interesse und Bewunderung für den Schriftsteller bei uns nicht nachließen. Diese Erfahrung brachte uns als Übersetzern und Literaturkritikern eine Bestätigung: um Stefan Zweig eingehend zu lesen und gebührend zu schätzen, muss man seine Empathie für das Leben und die europäische Kultur, die Zivilisation teilen, und diese Leidenschaft, wenn nicht mitempfinden, jedenfalls bejahen.
Es leuchtete uns jedoch sehr schnell ein, dass es von größerem, hochsignifikantem Interesse sein würde, diese zwischen 1902 und 1942 geschriebenen Texte in chronologischer Folge zu edieren. In einem ersten Band, Pas de défaite pour l’esprit libre[4] [Keine Niederlage für den freien Geist], übersetzten wir also siebenundvierzig « politische » Texte, und im zweiten (soeben erschienenen) Band[5] Écrits littéraires, d’Homère à Tolstoï, Inédits (1902-1933) sechsundvierzig « literarische » Essays – wobei es galt, sie alle in ihrem historischen Kontext wie auch im Werdegang ihres Autors wahrnehmbar zu machen. So zielt eine knapp gehaltene Einführung auf ein besseres Verständnis jedes Textes (manche liegen ja sehr weit zurück). Und wir erlauben uns, als heutige Leser und als Franzosen darauf zu reagieren. Es wurde auch deshalb zu einer fesselnden Arbeit, weil wir in manchen Beiträgen gewisse Echos mit den persönlichsten Werken Stefan Zweigs heraushören konnten. Wir meinen außerdem, dass die chronologische Folge ein « organisches Buch » zum Ergebnis hat – wie es sich Stefan Zweig für seine Werke wünschte, die von einer inneren und lebendigen Notwendigkeit beseelt sein sollten. Denn wir wollen das Hauptinteresse des Lesers auf ihn richten, den vielseitigen und weltoffenen Schriftsteller, in seiner Zeit verankert und sich immer weiter entwickelnd – ob er nun über Homer, Tolstoï, Verlaine oder Karl Marx schreibt!
Auch hoffen wir, Zweigs Meisterschaft auf diese Weise besser zur Geltung zu bringen. Denn diese lebenslang verfassten unzähligen Beiträge (deren schätzungsweise Hunderte noch wieder ans Licht zu bringen sind) ergeben sich aus einer Methode und entsprechen der Ethik eines Künstlers. In der Tat wollte Stefan Zweig als Autor verantwortungsvoll und präsent sein, um die literarische und moralische Neugier der deutschen Leser auf hoher Kulturebene wach zu halten – eine Praxis, die sich selbstverständlich vor dem Hintergrund geschichtlicher Ereignisse entwickelte, die wir nie gut genug werden kennen können…
Die chronologische Folge als Offenbarung
Aus der Neustrukturierung der Texte in der französischen Ausgabe ergeben sich unserer Ansicht nach einige bemerkungswerte Richtlinien, und sogar hie und da ein paar erstaunliche, ja verwirrende Schlüsse.
Tatsächlich ermöglicht die wieder hergestellte chronologische Folge eine deutlichere Periodisierung des Zweigschen Werks. Beim ersten Überblick fallen zwei entscheidende Fakten auf: die sechzehn Monate des Aufenthalts in der Schweiz, November 1917 bis März 1919, haben für die literarische Produktion des Wiener Schriftstellers eine erstrangige Bedeutung. Im Jahre 1914 wurde die Schweizerische Eidgenossenschaft, so Zweig, « das Herz Europas »: eine weiter bestehende Heimstätte der Kultur (auch wenn die Schweiz zeitweise fast explodiert wäre, und von der Invasion bedroht wurde). Zürich ist der germanische Pol, das französischsprachige Genf ist frankophil. Auch sind Bolschewisten da, im Umkreis von Lenin und Anatoli Lunatscharski. Und nicht zu vergessen: einige Bürger aus damals neutralen Staaten – Holländer, Skandinavier, Amerikaner und Japaner. Viele Refraktäre nehmen auch in der Schweiz Zuflucht, brillante und manchmal einflussreiche Männer wie Romain Rolland, Pierre Jean Jouve, Henri Guilbeaux. Mit ihnen allen ist Stefan Zweig in Kontakt, auch begegnet er markanten Persönlichkeiten wie Ferrucio Busoni, Hermann Hesse, Fritz von Unruh oder Andreas Latzko. Deshalb zieht er ins Hotel Belvoir in Rüschlikon, hoch über dem Zürcher See, in zwanzigminütiger Entfernung vom Stadtzentrum. Versucht man eine schöpferische Bilanz dieser Zeitspanne zu ziehen, so kann man sich nur wundern: Theaterstücke (Jeremias, Legende eines Lebens), lebensbebende Novellen (Der Zwang, Episode am Genfer See), mehrere beeindruckende Essays, in einer Art Trance hingeschrieben. Im Jahr 1918 geht Zweigs Pazifismus so weit, dass er sich als Defätist ausgibt (und seine Freunde meinen, er sei wahnsinnig geworden!) – oder er schreibt ein Lob auf Caliban: « Dreckfink von Gottesgnaden, Niemandssohn, Du Kobold, Du Faun, Du Bockskerl »[6] – und Shakespeares Tempest wird neubelebt, mit den Akzenten eines Ludwig van! In diesem Jahre 1918 erläutern zwei umfangreiche Wiener Feuilletons in der Neuen Freien Presse (am 21. und 22. August) Das Geheimnis Byrons[7]. Im Januar war Die Schweiz und die Fremden[8] erschienen, im darauffolgenden Oktober Friedensbotschaft im Herbst[9] und zu Weihnachten Die wandernden Bäume[10]. Im Leben und Schaffen Stefan Zweigs spielt die Schweiz eine viel größere Rolle als bisher angenommen wurde. Romain Rolland hat es richtig gespürt, als er am 24. Februar 1942 in seinem Journal de Vézelay[11] schrieb, kurz nachdem ihn die Nachricht von Stefan Zweigs Freitods erreicht hatte: « […] diese Hochzeitsreise im kleinen Land, am Zürcher See, war die schönste Zeit seines Lebens, die reinste, die selbstloseste. »
Die dreizehn Beiträge des damals in der Schweiz weilenden Titularfeldwebels Zweig sind eine echte Sensation. Denn er spricht sich darin wie nie vorher aus: die Tolstoïschen Träume, die literarischen Legenden, die Sexualität der Gefangenen – ein bei ihm unerwartetes Thema, worüber er aber wieder schreiben wird : 1928 « Im Kampf gegen die Todesstrafe »[12], und 1929 Anklage aus dem Zuchthause[13] –, der Egoismus der braven Leute, das Philiströse der Intellektuellen: alles findet sich da, unter Druck, wieder: die Angst, er könnte wieder in die Heimat geschickt oder gar des Landes verwiesen werden; der Wunsch, einen Lobgesang auf den Heiligen Romain Rolland zu singen ; die Whitmansche Freundschaft mit dem belgischen Holzschneider Frans Masereel, dem gutmütigen Riesen und großen Frauenfreund; die brüderliche Freundschaft mit dem Wiener Erwin Rieger, der die jungen Männer bis zum Drama liebte.
Andererseits bestätigt die chronologische Folge die Beständigkeit der Qualitäten und Überzeugungen eines Autors, den seine Anfänge als einen jungen Wiener Epheben und einen neben dem kongenialen Hofmannsthal auch begabten Dichter berühmt gemacht hatten. Bei seiner steil aufsteigenden Laufbahn wurde er jedoch von der schreckensreichen Geschichte des 20. Jahrhunderts stets eingeholt. Mit seiner kosmopolitischen Lebensart (dank ererbtem Wohlstand), mit einer immer wachen Neugierde, einer ausgesprochen lebendigen Libido und einem bemerkenswert energischen Arbeitswillen treffen ihn die Weltkriege mit besonderer Wucht, verwunden ihn in seinen Freund- und Liebschaften – ganz zu schweigen von seinem angeschlagenen literarischen Einkommen, auch unvergleichbar, denn auf weltweiter Skala.
* *. *
Jedoch hat sich Stefan Zweig immer zu seiner deutschen Zugehörigkeit bekannt. Diese Anthologie widerspiegelt das äußerst klar. Seine Beiträge werden alle zuerst auf deutsch verfasst, auch wenn einige sofort ins Englische übersetzt werden, wie 1933 die Ansprache im Hause Rothschilds zu Gunsten der deutschen jüdischen Frauen und Kinder[14], oder 1941 Die Angler an der Seine[15], oder auch 1942 (allerdings posthum) Hartrott und Hitler[16].
Man versteht hier auch deutlich, das Zweigs Liebe zu Frankreich (eine Tatsache, die uns Franzosen nur willkommen sein mag!) sehr selektiv ist : er hängt vor allem an Paris und den Pariserinnen, er liebt die Seine-Quais mit ihren Bücherkasten, das Versteigerungshaus « Hôtel Drouot », er liebt seinen « Bazal », den langjährigen Freund Léon Bazalgette, oder auch Rodin und Verhaeren. Aber er verurteilt das erstarrte System von Kasten und Institutionen, die das Genie des französischen Volks nur lähmen und das hervorragende Werk eines unvergleichlichen Romain Rolland missachten und stillschweigend verbannen. Besonders vielsagend ist der Schweizer Beitrag des 10. Dezember 1918, in welchem Stefan Zweig aus der Ferne Die Stimmung in Frankreich nach dem Sieg und vor dem Frieden[17] sehr akut darstellt: noch in Zürich weilend warnt er die Deutschösterreicher mit allergrößter Deutlichkeit: « Vom siegreichen Frankreich haben wir […] nichts zu erwarten ».
* *. *
Nur durch die chronologische Folge vermag man Stefan Zweigs Entwicklung innerhalb der bewegten Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erblicken und zu begreifen, umfasst doch diese zweibändige Anthologie Texte, die zwischen 1902 und 1942 veröffentlicht wurden. Es sei uns hier erlaubt, auf drei zuerst unscheinbar anmutende Beiträge hinzuweisen: auf Österreich und das deutsche Volk[18] (1915), Was können Wissenschaft und Kunst zur Wiederannäherung der Völker beitragen?[19] (1920) und auf Unsere Generation war aufgewachsen[20] (1940). Dass sie hier stehen, beweist, dass diese beiden Bände eine « organische » Einheit bilden; denn Zweigs Überzeugungen haben Bestand, sind mitnichten opportunistische Meinungen, und er weiß sie, wenn nötig, in knapp gehaltenen Texten wortkräftig zu formulieren – so dass wir sie nun auch in gedrängter Form kondensieren können: der große deutschsprachige Autor versteht sich als ein Wohltäter, er hat im Dienst an der Kultur und am Leben ein literarisch Schaffender zu sein. Romain Rolland, den Stefan Zweig zu seinem exemplarischen « compagnon de route » [Weggefährten] erwählte – und nicht (wie so oft behauptet wird) zu einem kritiklos verehrten « Meister » – brachte es auf den Punkt, als er, auf einer gemeinsamen Reise mit Zweig nach Leipzig zu den Händel-Festspielen im Juni 1925 in sein Tagebuch schrieb: « Die Literatur ist für ihn eine Religion, und er übt sie tugendhaft aus. »
Der Genius der Verantwortlichkeit
Etwas anderes noch lässt sich anhand aller dieser Texte ganz klar feststellen: Stefan Zweig ist eine Zierde der Weimarer Republik gewesen. Man zelebriert immer das Bauhaus, wohlgetan! Aber das selbstverständliche, tiefgehende Einverständnis Zweigs mit seinem deutschen Lesepublikum ist eine wichtige, unbestreitbare Tatsache – zehn Jahre lang auf dem Höhepunkt bleibend: 1923-1933. Und Zweig setzte alles daran, um gegen die aufsteigende barbarische Unbildung bestehen zu bleiben. Wenn er mit einem brillanten Text An den Genius der Verantwortlichkeit Thomas Mann zum fünfzigsten Geburtstag huldigt[21], glaubt er offensichtlich (noch) an die Möglichkeit eines Pakts mit den anderen Betreuern des Geistes und mit ihrem Genius.
Unter solchen Umständen versteht man besser, was für eine persönliche Katastrophe die 1933er Wende für Stefan Zweig war, und warum er verbittert um sein Weiterexistieren als deutscher Autor kämpfte. Erst dann hörte das schon seit erster Stunde in seinem Werk präsente jüdische Motiv auf, ein bloßes literarisches Thema zu sein: es wird zur heiligen Sache, zur Sache der Kultur überhaupt. Im ersten Band dieser Anthologie zeugen sechs Beiträge von diesem explizit geführten Kampf, bisher noch kaum zur Kenntnis genommen.[22]
Was von den meisten Kritikern auch nicht wirklich wahrgenommen wurde, ist, dass die « großen Biographien », die zum späteren Teil des Werks gehören, hauptsächlich auf die Tatsache zurückzuführen sind, dass der deutschsprachige Autor Zweig, plötzlich von seinen eigentlichen Lesern abgeschnitten, nunmehr internationale Werke hervorbringen muss, die sofortige – also eilige – Übersetzungen « ertragen » können. Nur sein Joseph Fouché, 1929 erschienen (dessen Untertitel « Bildnis eines politischen Menschen » auf französisch erst neulich wieder aufgetaucht ist[23]), ein Buch, das er ohne rechten Glauben an Publikumserfolg schrieb, und Marie Antoinette (1932 publiziert) gehören in die Weimarer Zeit. Alle anderen, von Erasmus zum Magellan, entstammen den inneren Kämpfen des Exils; sie entsprechen Zweigs unablässigem Willen, der weltweit meist gelesene und meist übersetzte deutschspra- chige Autor zu bleiben. Als solcher wird er in der Tat wahrgenommen – insbesondere ab 1936 mit seiner heiß gefeierten Rede Von der geistigen Einheit Europas, am 27. August in Rio de Janeiro gehalten –, als der Botschafter der europäischen Kultur in den nord- und südamerikanischen Staaten, bevor Thomas Mann ihn allmählich, jedenfalls in den USA, aus dieser Rolle verdrängt.
* *. *
Bei der genauen Entdeckung dieser Beiträge wird der neugierige Leser unzählige Überraschungen erleben. Es wird ihm insbesondere bewusst, dass Stefan Zweig es von Anfang an (1902, als 21-Jähriger) verstand, durch die Tagespresse und die besten Zeitschriften als verantwortungsvoller Autor für seine Leser lebendig und präsent zu bleiben. Durch diese engagierte Teilnahme am geistigen Leben vermochte er auch treffende Themen zu finden und konnte seine Produktion vor der Buchveröffentlichung testen: so bot Die Liebe bei Dostojewski[24] (1914) einen Vorgeschmack seiner längeren Darstellung des großen Russen in Drei Meister, die erst 1920 erscheinen sollte.
Denn das schriftstellerische Werk Stefan Zweigs bildet ein Ganzes, und zwischen Artikeln und Büchern, zwischen Artikeln und Geschmacksrichtungen, zwischen gewissen Vorlieben und manchen Ängsten lassen sich über Jahre hin Auswirkungen erkennen: auch da gibt es organische Bande. Vom tragischen Schicksal eines Gustav Landauer, der 1921 zweimal für seine brillanten Shakespeare-Vorträge[25] lebhaft zelebriert wird, klingt im ergreifenden Ende Oscar Wildes[26] und Dostojewskis etwas nach. Man ahnt hie und da verborgene Verbindungen der Ursprünge, wie etwa zwischen der Verwirrung der Gefühle (Novelle), Legende eines Lebens (Theaterstück) und dem schönen Gedicht Heroischer Augenblick in den Sternstunden der Menschheit!
Zweigs Geschmack behauptet sich überall, denn er schreibt keinen Artikel auf Bestellung. Und ab und zu kann mancher französische Leser nur staunen… Von Flaubert z. B. schätzt Zweig vor allem Salambô; und als einzigen Nachfolger des großen Meisters betrachtet er einen gewissen Jean Lombard, einen anarchistisch gesinnten Autor, dessen historische Romane, obwohl seinerzeit von Octave Mirbeau bewundert, heute ganz in Vergessenheit geraten sind. In drei Artikeln über Stendhal aus den Jahren 1906, 1910 und 1928[27] zeigt sich Zweig viel weniger am großen Autor interessiert als an dem Menschen Henri Beyle. Und 1902 neigt er dazu, Arthur Rimbauds außerordentliches Leben höher zu stellen als seine dichterischen Werke[28] !
Auch andere Vorlieben Stefan Zweigs kommen in dieser Sammlung zum Vorschein: obwohl selbst ein leidenschaftlicher Sammler von literarischen Autographen, hat er Faksimile-Ausgaben – etwa die von Heines Deutschland, ein Wintermärchen[29] – lieber als die von Bibliophilen gesuchten luxuriösen Original-Ausgaben. Und in diesem Bereich kann er manche spekulativen Entgleisungen entschieden verurteilen, wie in Habent sua fata libelli (1914) und Warnung an Bibliophilen (1922)[30]. Die erschwinglicheren Faksimile-Ausgaben ermöglichen dem wahren Liebhaber nämlich eine « geistige Durchdringung », « ein persönliches Verhältnis zum Werk », dessen schöpferisches Original er darin betrachten kann. So erklärt sich auch Stefan Zweigs Begeisterung, als er in London William Blake entdeckt, der in seinem künstlerischen Christentum zu mystischen Erfindungen gelangte, von echt erlebten Visionen genährt. In seinen zwei Beiträgen zu William Blake 1906 und 1907[31] offenbart Zweig die Quellen seiner eigenen Religiosität. In dieser Zeit arbeitet er selber daran, Verhaerens dichterisches und dramatisches Werk in deutschsprachige Länder zu vermitteln, und er kennt Romain Rolland noch gar nicht. Auch hier ist die Chronologie also vielsagend und erleuchtend.
* *. *
Nach langjährigen und aufmerksamen Lektüren sind wir weiterhin[32] der Meinung, dass es in Stefan Zweigs Werk und Persönlichkeit zwei entscheidende Seiten gibt: die eine neigt zur « Dämmerung » hin, ist spontan und transgressiv veranlagt; die andere gründet auf dem « Willen » und hat eine poetisch-moralische Struktur. Im ersten Fall herrscht Inbrunst, ja manchmal Wut (es ist die Caliban-Seite!); auf der anderen Seite wird moralische Verantwortung gepflegt, zugunsten der Kultur und des Friedens (es ist die Ariel-Seite!). Wir hatten diese Dichotomie in Stefan Zweigs Novellen wie in seinem Theater aufgespürt, so dass es uns nicht erstaunt hat, diese Dualität in seinen Artikeln wiederzuerkennen: 1925 z. B. kann Zweig dem Genius der Verantwortlichkeit[33] huldigen, nachdem er kurz vorher den Genius Englands[34] (1924) begrüßt hat, und zugleich unter Goethes Schirmherrschaft bleiben: Zum 28. August. Goethe und die Rahel[35]. Wobei er doch 1920 hatte erklären können: « Die erste, die notwendigste Aufgabe der Intellektuellen in allen Ländern scheint mir in diesem Augenblick zu sein: mitzuhelfen an der E n t p o l i t i s i e r u n g d e r W e l t. »[36] – Im Jahre 1920! In Deutschland. In Leipzig. Das klingt doch unerhört!
In jedem dieser so mannigfaltigen Beiträge fällt ein stark überzeugter Ton auf. Um diese Texte wirklich zu begreifen, muss man sich darauf einstimmen. In der Kurve eines Lebens, das Stefan Zweig ganz der Kultur und der Zivilisation gewidmet hat, erblickt man mithilfe einer sorgfältig etablierten Chronologie zwei Höhepunkte: 1925 und 1936. Der erste ist der Gipfel seiner Laufbahn in Deutschland, der zweite markiert seinen internationalen Triumph in Rio de Janeiro und in Südamerika. Aber zwei Momente des Zusammenbruchs zeichnen sich mit ihrem unwiderruflichen Charakter auch sehr deutlich ab: 1933 und 1942. In Deutschland, und in Brasilien. So weit auseinander gestreckt, dass sich daraus eine Art großes W ergibt – wie der Anfangsbuchstabe von Weltliteratur!
Und als Zeichen, dass Stefan Zweigs Geist bei weitem nicht verschwunden ist, wird unserer Tage – ab 11. Juni 2021 und bis zum 4. September 2022 – im österreichischen Literaturmuseum in Wien eine Ausstellung gezeigt: « Stefan Zweig. Weltautor » Ein weltweit bekannter Autor. Ein Autor für die Welt. Ein Autor in der Welt. Immer noch, heute und morgen.
[1] Stefan Zweig, Romans et nouvelles, mit revidierten Übersetzungen von Alzir Hella et al, Hrg. von B. Vergne Cain et Gérard Rudent, La Pochothèque LGF 1991 und Romans, nouvelles et Théâtre, mit revidierten Übersetzungen von Alzir Hella et al, Hrg. von B. Vergne Cain et Gérard Rudent, La Pochothèque LGF 1995.
[2] 2016 erschienen « Erst wenn die Nacht fällt », Politische Essays und Reden 1932-1942 und « Nur die Lebendigen schaffen die Welt », Politische, kulturelle, soziohistorische Betrachtungen und Essays 1911-1940 ; und 2017 STERNBILDER, Sammlung verschollener Essays über deutschsprachige Klassiker et ZEITLOSE, Sammlung verschollener Essays über fremdsprachige Klassiker – als die Bände N°1 à 4 der Sonderreihe « tranScript » – in der Folge als « ROESNER 1 bis 4 » zitiert.
[3] Für die Artikelauswahl ist der Bamberger Klaus Gräbner (1944 geb.) verantwortlich, ein leidenschaftlicher Stefan Zweig-Liebhaber, der keinem akademischen Kreis verpflichtet ist und seit seiner Jugend nach unbekannten Beiträgen seines Lieblingsautors auf eigene Faust recherchiert hat. Diese Begeisterung brachte ihn mit Zweigs englischem Biographen Donald Prater wie mit dem hochgeschätzten amerikanischen Zweig-Bibliographen Randolph Klawiter in Kontakt. Bei seiner Zusammenarbeit mit dem Roesner Verlag entschied sich Klaus Gräbner für eine thematische Anordnung der Texte. Am Ende jedes ROESNER-Bands stehen zur Erstveröffentlichung der jeweiligen Beiträge « Bibliographische Nachweise », die wir in den meisten Fällen übernehmen konnten.
[4] Stefan Zweig: Pas de défaite pour l’esprit libre, Écrits politiques 1911-1942, Inédits. Avant-propos, traduction de l’allemand et annotations de Brigitte Cain-Hérudent. Préface de Laurent Seksik. Albin Michel, Paris 2020. – In der Folge als « Bd I » zitiert.
[5] Stefan Zweig: Écrits littéraires, d’Homère à Tolstoï, Inédits (1902-1933). Avant-propos, traduction de l’allemand et annotations de Brigitte Cain-Hérudent. Albin Michel, Paris 2021. (Es wurde leider vom Verlag einseitig beschlossen, für diesen 2. Band keine Illustration zu übernehmen). In der Folge als « Bd. II » zitiert.
[6] Vgl. Quasi una phantasia, Bd. II, p. 179; ROESNER 4, S.47.
[7] Vgl. Bd. II, p. 187; ROESNER 4, S.74-95.
[8] Vgl. Bd. I, p. 83; ROESNER 2, S.108.
[9] Vgl. Bd. I, p. 101; ROESNER 2, S.114.
[10] Vgl. Bd. I, p. 115; ROESNER 2, S.125.
[11] Jean Lacoste (Hg.), Romain Rolland. Journal de Vézelay 1938-1944, Paris, Bartillat 2012, S. 729.
[12] Vgl. Bd. I, p.199; ROESNER 2, S.36.
[13] Vgl. Bd. I, p.207; ROESNER 2, S.38.
[14] Vgl. Bd. I, p.247; ROESNER 1, S.37.
[15] Vgl. Bd. I, p.331; ROESNER 2, S.167.
[16] Vgl. Bd. I, p.339; ROESNER 1, S.113.
[17] Vgl. Bd. I, p.109 (Zitat auf S.114); ROESNER 2, S.120 (Zitat auf S. 124).
[18] Vgl. Bd. I, p.65 ROESNER 2, S.87.
[19] Vgl. Bd. II, p.233; ROESNER 3, S.7.
[20] Vgl. Bd. I, p.327; ROESNER 1, S.101.
[21] Vgl. Bd. I, p.191; ROESNER 2, S.31.
[22] In Frankreich jedenfalls; denn es erschien seitdem in Deutschland der Band Stefan Zweig, Briefe zum Judentum, Hrsg. Stefan Litt, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. Eine Auswahl, die 120 Briefe umfasst (1901-1941).
[23] In der neuen Übersetzung von Jean-Jacques Pollet, Stefan Zweig, Joseph Fouché, portrait d’un homme politique, Les Belles Lettres, Paris 2021.
[24] Vgl. Bd. II, p.131; ROESNER 4, S.139.
[25] Vgl. Bd. II, S. 237 u. 259; ROESNER 4, S.36 und 41.
[26] Vgl. Bd. II, S. 293; ROESNER 4, S.96.
[27] Vgl. Bd. II, S.61, S.109 und S.341, respektive Bekenntissse eine Egotisten, Ausgewählte Briefe Stendhals und Eine deutsche Stendhal-Biographie; ROESNER 4, S.111, S. 113 und S. 116.
[28] In Paul Verlaine, Bd. II, S.19; ROESNER 4, S.126.
[29] Vgl. Bd. II, S.161; ROESNER 3, S.61.
[30] Vgl. Bd. I, respektive S.47 und S.187; ROESNER 2, S.61 und S. 65.
[31] Vgl. Das Werk des William Blake, Bd. II, S.49 und William Blakes Auferstehung, Bd. II, S.65; ROESNER 4, S.60 und S. 65.
[32] Vgl. unser Vorwort in der Pochothèque-Ausgabe 1991, op. cit. Neuausgabe 2013, S.19-20.
[33] Vgl. Bd. I, p.191; ROESNER 2, p.31.
[34] Vgl. Bd. I, p.179; ROESNER 2, p.143.
[35] Vgl. Bd. II, p.311; ROESNER 3, p.31.
[36] Vgl. Bd. II, p.234; ROESNER 3, p.7.
Permalink
Sehr schön, dass Stefan Zweig auch außerhalb des deutschen Sprachraums (und vor allem in unserem von ihm so sehr geschätzten Nachbarland Frankreich) immer noch so viel Interesse entgegengebracht wird! Herzlichen Dank an Madame Vergne-Cain und Monsieur Rudent für ihre übersetzerische Arbeit und ihr Engagement als Kulturvermittler – und mögen die beiden Bände in Frankreich viele Käufer finden!