Vortrag gehalten am 16.09.2018 von Ursula Bretschneider beim Jahrestreffen der ISZG in Straßburg.
Die Schachnovelle von Stefan Zweig als Vorlage zu einem Comic?
Das war mein erster Gedanke, als ich von der Existenz dieses Comis hörte. Wie kann ein solcher erzählerischer Inhalt wohl bildlich wiedergegeben werden mit der eingeschränkten Möglichkeit des Einsatzes der Schrift? Lebt Stafan Zweigs Novelle doch ganz durch seine herausragende Sprache.
Jeder hat schon einmal ein Comic in der Hand gehabt und gelesen
und kennt die Merkmale. Nicht jeder kann sich dafür begeistern. Doch gibt es Bildergeschichten schon seit vielen hundert Jahren, teils mit teils ohne dazugehörenden Text. Schon immer wurde mit Bildern Geschichte bewahrt oder wurden Geschichten erzählt.
Daraus hat sich dann im 19. Jahrhundert der Comic entwickelt, der
zunächst nicht zur ernst zu nehmenden Literatur gezählt, doch ab ungefähr 1990 salonfähig wurde, bedient sich der Comic doch der Mittel der Bildenden Kunst, des Theaters und der Filmkunst.
Bei rein auf dem Wort basierenden Literaturformen läuft beim Leser die Vorstellung der Handlung als „Kopfkino“ ab.
Beim Comic-Leser ist die Vorstellung der Handlung durch den Gebrauch der bildnerischen Mittel stärker visuell ausgeprägt. Durch den Einsatz von Bildsymbolen wirkt der Comic unmittelbarer auf den Leser als die Erzählstimme der Prosa. Der Autor kann nicht nur durch die Wahl der Worte, sondern auch in den Bildern einen ganz persönlichen Stil zeigen. Dabei ist auch die geschickte Wahl von Bildausschnitt, Perspektive und dargestelltem Moment bedeutsam. Der richtig gewählte sogenannte „fruchtbare Moment“ lässt ein Bild lebendiger, überzeugender wirken und unterstützt im Comic den Lesefluss.
Beim Lesen eines Comics werden die Inhalte der einzelnen Panels (Bildkästen) zu einem Geschehen zusammengefügt. Damit dies gut gelingt, werden Techniken verwendet, die auch in der Filmkunst vorkommen. Die einzelnen Panels zeigen Einstellgrößen wie Totale, Halbnahe, Großaufnahme oder Detail, und es wird zwischen verschiedenen Perspektiven gewechselt.
Der Textentwurf eines Comics, geschrieben vom Autor, wird „Script“ genannt und dient dem Zeichner als Vorlage für seine Arbeit. Aus diesem Script erstellt er sich zumeist ein „Storybord“, auf dem die Handlung in einzelne Etappen zerlegt wird. Handlungssprünge und Informationslücken erfordern dabei vom Comic-Zeichner eine erhöhte Aufmerksamkeit, damit beim endgültigen Produkt ein flüssiges Leseverstehen seitens der Leserschaft gewährleistet ist.
Im Comic hat sich eine eigene Formensprache entwickelt, die jeder Comic-Autor für seine Geschichte passend einzusetzten und zu variieren versteht. Neben den unterschiedlichen Panelrahmen und -größen ist die Sprech- oder Denkblase zugleich Symbol und Mittel zur Integration von Text, Speedlines werden zur Darstellung von Bewegung, Schriftart- und größe, lautmalerische Worte sowie der Einsatz von Farben zur Vermittlung von Emotionen gebraucht. Die Stilisierung und Übertreibung von Merkmalen der Figuren dient ihrer Charakterisierung und Unterscheidbarkeit für den Leser.
Mancher deutsche Comicleser blickt voll Neid nach Frankreich, denn hier ist die Produktion an Alben, Strips und Magazinen weit höher.
Vor allem genießt diese Kunst eine höhere Anerkennung als in Deutschland, hat sie sich doch mehr der Literatur zugewandt. Auf diese Weise konnten die Autoren und Leser neue Wege gehen. Wer in Frankreich Comics liebt, liebt die „neunte Kunst“, eine Kombination von grafischer und schriftstellerischer Kreativität. „Bandes dessinées“, übersetzt „gezeichnete Streifen“, kurz BD, werden die Bildergeschichten genannt. Mit Komik hat das im Französischen nichts zu tun, weil beileibe nicht alles komisch ist, was Comic heißt.
Comics sind in Frankreich nicht ausschließlich eine Kinderdomäne, sondern bei Erwachsenen haben sie ebenfalls einen hohen Beliebtheitsgrad und eine lange Tradition. Diese Tradition wird geschätzt und gepflegt. Keine große französische Buchhandlung kommt ohne Comic-Abteilung aus und jedes Jahr findet in Angoulême Europas größtes Comic-Festival statt.
Nun hat David Sala „Die Schachnovelle“ von Stefan Zweig als Skript für sein Comic-Buch gewählt.
David Sala arbeitet technisch auf traditionelle Art und Weise nur mit Zeichenstift und Aquarellfarben, wobei Menschen immer seine bevorzugten Motive waren und sind. Die Gesichter, vor allem von richtigen Originalen, interessieren ihn besonders, und er versucht sie sehr natürlich darzustellen.
Das erkennt man gleich auf den ersten Seiten seines Comics, wo dem Leser schon die ersten Charakterköpfe der Protagonisten begegnen (Seite 8 und 13).
Sala beginnt immer zuerst mit der Zeichnung und fügt erst später die Farben hinzu. Wenn ein Bild entsteht, ist es für ihn sehr wichtig, zunächst den besten Blickwinkel zu finden, den richtigen Ausdruck und die entspechende Körper-haltung und Bewegung. Das erfordert vom Künstler Improvisationsvermögen, und auf diese Art und Weise versucht er mit den Motiven und der Farbgebung auszudrücken, was er empfindet.
Dabei arbeitet David Sala weitgehend ohne Storybord, sondern denkt sich in ein Szenario hinein, fertigt eine Skizze und legt direkt los, ohne zu überlegen, nur geleitet von Gefühl und Instinkt für diese Szene. Das gibt ihm die Freiheit, ohne Einschränkungen zu arbeiten, und bewahrt ihn vor einem mechanischen und automatisierten Arbeitsschema.
Er selbst sagt:
„Ich spiele mit dem Stoff, eine Schattierung macht sich selbständig und kreiert wieder viele Variationen, freie Formen. Das ist das Faszinierendste an der direkten Farbgebung, man geht von einer Skizze aus, und je nach Art der Kontraste, der Schattierung und der Motive verändert sich das Bild komplett, es kann ein Gefühl der Sicherheit oder auch der Bedrohung hervorrufen.“
Sala meint, die Schachnovelle spiele in einem erstickenden Raum, deshalb habe er sich entschieden, alle nächtlichen Szenen in den Tag zu verlegen und nicht nur die schwarzen Seiten der Erzählung grafisch darzustellen. Er wollte eine neue Dimension schaffen, indem er den Hell-Dunkel-Kontrast betont. In der melancholischen Farbgebung findet man die Sehnsucht nach einer verlorenen Welt in den Farben grau, türkis und purpur, die Zweigs „Welt von Gestern“ charakterisieren sollen.
Das war Salas persönliche Entscheidung, so seinen grafischen Raum in aller Freiheit zu gestalten, da sich in der Novelle wenig Beschreibungen zur Umgebung finden. Die „Welt von Gestern“ wird aber nicht nur farblich symbolisiert, sondern auch durch das Dekor des Wiener Jugenstils der 20er Jahre. Zu entdecken auf Kleidungsstücken der dargestellten Personen, als Tapeten an den Wänden der Räume und auf den Polsterbezügen der Sitzmöbel.
Obwohl die Erzählung hauptsächlich in geschlossen Räumen spielt, zeigt David Sala immer, wenn es möglch ist, die Welt „draußen“, um für den Leser Abwechslung zu schaffen. Als zum Beispiel der Erzähler auf dem Promenaden-deck nach Dr. B. sucht, erhält der Leser bei Zweig keine Beschreibung der Umgebung. Sala nützt die Gelegenheit für eine visuelle Flucht, um der sehr gespannten Atmosphäre der Schachpartie zu entfliehen und das Leben abseits der Konfrontation zu zeigen. Die Unbekümmertheit der reichen Leute soll mehr Realismus in die Geschichte bringen und einen Kontrast setzen: die Leichtigkeit der Passagiere gegen den tragischen Konflikt, der sich im Schachspiel entwickelt.
Diese gewollt eleganten und ein wenig altmodischen Bilder sollen eine Hommage an die verlorene „Welt von Gestern“ sein.
Der gesamte Comic ist durchgehend in der gleichen Farbpalette gestaltet. Eine leichte Veränderung findet auf den Seiten der Binnenerzählung statt, die Dr. B’s Gefangennahme und Leidenszeit wiedergeben. Die Farben werden teilweise dunkler, unfreundlicher, weniger leuchtend, was auch den Gemütszustand von Dr. B. und die Bedrohung symbolisiert.
Auch durch die wechselnde Größe und Anordnung der Panels gelingt es David Sala, die jeweilige Handlung und Situation, in der sich die Personen befinden, eindrücklich wiederzugeben.
Er nimmt zum Beispiel aus einem Panel, das die Situation in der Totalen zeigt, zwei Ausschnitte heraus und stellt sie als Brustbild der einen Person und als Detailwiedergabe zweier weiterer Personen daneben. Der Blick des Lesers wird daurch näher an das Geschehen herangeführt und somit auch intensiver mit der herrschenden Stimmung vertraut gemacht. (S.35)
Auf teilweise ganzseitigen Panels werden dieselben von kleinen Panels überlagert. Das findet der Leser vor allem im Bereich der Binnenerzählung. Das Gesicht Dr. B’s in Großaufnahme wird von kleinen Panels überlagert, die wiederum in Großaufnahme Einzelheiten aus seinem Gefängnis zeigen. Die einengende, bedrückende Situation, in der sich Dr. B. befindet, wird dadurch bildlich wiedergegeben. (S.50/51)
Auffallend sind mehrfach Seiten in der Binnenerzählung, auf denen viele kleine gleich große Panels rasterartig angeordnet sind.
Zunächst wird z.B. auf Seite 52 auf 6 gleichartigen Panels Dr. B. In verschiedenen Situationen und unterschiedlichen Einstellungen in seiner Isolierhaft gezeigt.
Auf der nächsten Seite 53 vervielfachen sich die Panels und zeigen auf 16 kleineren Bildflächen ähnliche Situationen. Obwohl handlungsmäßig auf den einzelnen Panels nicht viel geschieht, wird durch die verfielfachte Anordnung auf derselben Fläche die Einengung und Isolation der eingesperrten Person Dr. B. sichtbar gemacht.
Auf 9 rasterartig angeordneten Panels auf S. 60 werden nur als Detailwiedergabe die Sinnesorgane Augen, Mund und Nase von Dr. B. gezeigt. Auch durch die Isolation seiner Sinne, nichts zu hören, mit niemandem sprechen zu können, keine wechselnden Gerüche wahrzunehmen, wird Dr. B. immer verzweifelter und versucht, aus dieser Situation zu entkommen.
Das wird auf der folgenden Seite 61 auf Panels unterschiedlicher Größe gezeigt, auf denen in Form von Sprechblasen und kleinen erzählenden Textfeldern zusätzlich zu den Bildern seine Verzweiflung in Worte gefasst wird.
Im gesamten Comic gibt es nur zwei Seiten, auf denen ein einziges großes seitenfüllendes Bild zu sehen ist. Beide Seiten stellen jeweils einen wichtigen Wendepunkt im Leben des Dr. B dar.
Seite 85 besteht aus einem ganzseitigen Panels, das den Wahnsinn, in den Dr. B.gerät, zeigt. Mit Hilfe der Fluchtpunktperspektive dargestellt, schaut der Leser in einen in die Tiefe gehenden dreidimensionalen Raum, dessen Wände schachbrettartig gestaltet sind. Die Person des Dr. B, teils in schwarzem, teils in weißem Anzug, bevölkert in mehrfacher Ausführung den Raum auf allen Seiten. Egal wie der Betrachter die Seite dreht, eine vernünftige Ordnung kann in diesem Raum nicht entstehen, die Welt des Dr. B. steht immer irgendwie auf dem Kopf. Er hat sich während seiner Isolierhaft als Ablenkung derart in die Schachpartien hineingesteigert, dass er durch die entstandene Schizophrenie Wahnsinnsvorstellungen bekommt.
Auf einem weiteren ganzseitigen Panel wird der Leser als Zuschauer wie bei einer Guckkastenbühne im Theater in das Geschehen des letzten, entscheidenden Schachspiels einbezogen, das die Erinnerungen Dr. B.s wecken und ihn in eine schreckliche Situation bringen wird (Seite 93).
Speedlines und Lautmalereien setzt David Sala in seinem Comic sehr sparsam ein. Während der verschiedenen Schachpartien werden ein Glas und ein Löffel benutzt, um dem Spielpartner den getätigten Zug zu vermelden. Das Glas und der Löffel werden auf einem kleinen Panel in Großaufnahme oder Detail gezeigt, und um den Klang, den der Löffel beim Dagegenklopfen erzeugt, sichtbar zu machen, setzt der Autor kurze weiße Linien um den Löffel (Seite 21, 24, 27).
Lautmalereien tauchen im Comic nur einmal auf, und zwar gegen Ende, in der bedrängenden Situation der letzten Schachpartie, als Centovic ungeduldig mit seinen Fingern auf die Tischplatte klopft. Der Leser sieht nicht nur die Abbildung der klopfenden Finger, sondern sein Hörsinn wird indirekt durch das schriftliche tap! tap! angesprochen (Seite 105).
Dr. B. hat den Bezug zur Wirklichkeit verloren und verliert nun auch beim letzten Schachspiel. Wie bei einem filmischen Ende setzt Sala auf Seite 110 vier schmale über die gesamte Seitenbreite reichende Panels untereinander, auf denen jeweils die Perspektive und der Blickwinkel des Lesers wechseln.
Zuerst sieht er wie herangezoomt in Nahaufnahme die betroffenen Gesichter der Zuschauer.
Auf dem nächsten Streifen wechseln die Blickrichtung und die Perspektive zu Dr. B. als kleine, von der Seite zu sehende Person in gebeugter, sich entschuldigender Haltung vor den im Vergleich zu ihm übergroßen Personen, von denen nur die Beine zu sehen sind.
Wie von oben aus der Vogelperspektive schaut der Leser auf dem dritten Panelstreifen auf das Geschehen und den davonschleichenden Dr. B.
Auf dem vierten Panel hat der Leser den Eindruck, selbst einer der teilnehmenden Zuschauer zu sein und zwischen den Köpfen der anderen dem den Raum verlassenden Dr. B. hinterherzuschauen.
Der Autor David Sala arbeitet mit allen Merkmalen, die ein Comic ausmachen, auf ganz eigene, sehr kreative, lustvolle Art und Weise. Mit dem hauptsächlichen Merkmal der Panels entwickelt er in diesem Comic eine ganz spezifische Form des Gebrauchs, wobei er zusätzlich ganz bewusst und häufig zu den filmischen Einstellungen greift.
Da Sprache, Speedlines und Lautmalereien weniger, teils nur spärlich eingesetzt werden, kommen die Aussage der Bilder und Farben stärker zur Wirkung.
Sprechblasen und erzählende oder beschreibende Textkästen tauchen nur dann auf, wenn der Leser sie zum Verstehen des Inhalts dringend benötigt. Die erzählenden Textstellen wurden dabei verkürzt und leicht verändert der französischen Novellenübersetzung entnommen.
Wer sich in der Bildenden Kunst ein wenig auskennt, entdeckt immer wieder Merkmale der Wiener Secessionisten Gustav Klimt und Egon Schiele, sowie des belgischen Grafikers und Malers Mauritz Escher, die David Sala in seine ganz eigene Art des Gestaltens aufgenommen und eingefügt hat.
Für mich war und ist es eine Freude und ein Vergnügen, dieses Comic immer wieder zur Hand zu nehmen und zu lesen, wobei ich jedes Mal zu meiner Überraschung wieder etwas Neues, vorher nicht Gesehenes entdecke.