Frau Dr. Yukiko Sugiyama, Mitglied unserer Gesellschaft, hat vor kurzem die Schachnovelle und einen weiteren Text Stefan Zweigs ins Japanische übersetzt. In ihrem begleitenden Essay schildert sie ihre Begeisterung für Stefan Zweig und reflektiert die Herausforderungen beim Übersetzen vom Deutschen ins Japanische.
Wir gratulieren sehr herzlich zu dieser schwierigen Arbeit und wünschen Frau Prof. Dr. Yukiko Sugiyama und dem Verlag viele Leserinnen und Leser. Wir freuen uns, den Essay im Folgenden auf Deutsch und Japanisch (hier zum Download) vorstellen zu können.
Die Reise in die Vergangenheit / Schachnovelle (Tokio 2021)
Als Deutschlehrerin an der Keio Universität in Yokohama lehre ich StudentInnen verschiedener Stufen die deutsche Sprache. Parallel dazu forsche ich als Germanistin zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stefan Zweig ist bereits seit meiner Gymnasiumszeit mein Lieblingsautor und der Grund dafür, weshalb ich mich entschlossen hatte, überhaupt Germanistik zu studieren. Als Studentin wurde ich Mitglied der Internationalen Stefan Zweig Gesellschaft. Zweig hat mich bald auch nach Salzburg geführt – 2010 war ich zum ersten Mal dort und lernte unseren Präsidenten Herrn Hildemar Holl kennen. Von 2012 bis 2015 studierte ich in Salzburg, promovierte dann im Jahr 2016 mit der Dissertation zum Thema der Idee der „inneren Freiheit“ bei Stefan Zweig. Bis heute markiert der Schriftsteller einen meiner Schwerpunkte im Leben, und Salzburg ist nach wie vor die zweite Heimat für mich.
Bisherige Stefan Zweig-Übersetzung in Japan
Als Siebzehnjährige las ich Zweig natürlich auf Japanisch. In Japan zählt er nicht zu den gut bekannten Autoren. Richtig populär ist lediglich das Comic Die Rosen von Versailles (Riyoko IKEDA), das von Zweigs Biographie Marie Antoinette inspiriert wurde. Es gibt Zweigs Gesammelte Werke (21 Bände, Misuzu Shobou Verlag) auf Japanisch, die aber schon vor mehr als 50 Jahren publiziert wurden und heute nur in Bibliotheken und über Antiquare zugänglich sind. Auch ich habe diese Bände gelesen. Schachnovelle war selbstverständlich darin enthalten und beeindruckte mich sehr.
Jedoch fehlen in den Gesammelten Werken manche sehr wichtige Beiträge wie Jeremias oder einige Erzählungen und Essays, während Briefe gar nicht vorhanden sind. Zudem, um ganz ehrlich zu sein, war ich mit diesen Übersetzungen von alten japanischen Professoren nicht immer zufrieden. Wie ich später erfahren sollte, gab es in Japan nahezu keinen Zweig-Spezialisten. Im Gegenteil: Wie vielleicht teilweise auch in deutschsprachigen Ländern, so auch in Japan, wurde dieser Schriftsteller von Germanisten nicht selten als ein „zweitklassiger Unterhaltungsliterat“ verachtet. Zwar waren die Übersetzer bekannte Germanisten der japanischen Universitäten, doch sie waren an Zweigs Literatur oft nur wenig interessiert. Manchmal ist in ihrem Nachwort sogar ihre Geringschätzung gegenüber Zweig angedeutet. Ich glaube fest, dass man das Werk, das man übersetzt, zwar nicht immer leidenschaftlich lieben, aber wenigstens vollkommen als solches respektieren muss. Auch rein technisch verlässt diese überkommene Ausgabe die für die alten Übersetzungen typischen sprachlichen Künstlichkeit nicht, was die Texte für heutige Leser nochmals weniger ansprechend macht.
Neue Übersetzung: Zwei Novellen
Ich hatte also immer davon geträumt, meine eigenen Übersetzungen zu veröffentlichen. Und nun erhielt ich die Chance, einer Serie ausländischer Literatur, die ein kleiner Verlag in Tokyo (Genki Shobou Verlag) produziert, einen Band hinzufügen. Zu dieser Serie gehörte bereits ein Zweig-Band, und zwar Legende (Die Legende der dritten Taube, Die Augen des ewigen Bruders, Der Turm zu Babel – dies zum ersten Mal auf Japanisch – und Der begrabene Leuchter, übersetzt von Yu UWAGAWA und Midori KAGO). Dies hat mich auf der einen Seite ermutigt, dass sich Germanist/innen meiner Generation durchaus für Zweig interessieren und ein solches Ergebnis dargestellt hatten.
Auf der anderen Seite wollte ich Zweig aus einer anderen Perspektive vorstellen. Ich habe mich für Erzählungen entschieden, weil ich unter den Werken Zweigs zuerst die Erzählungen gelesen hatte und sofort von ihnen fasziniert war. Und wenn man sich auf fiktive Werke fokussiert, dann sollte man meiner Ansicht nach auf Schachnovelle keinesfalls verzichten. Dieses Werk ist selbst in Japan nicht gänzlich unbekannt (freilich, wenn auch nur einer ganz kleinen Gruppe, die sich für ausländische Literatur interessiert). Unter den japanischen gesammelten Werken erachte ich die Übersetzung dieser Novelle als nicht schlecht, aber die Sprache scheint aus heutiger Sicht doch allzu veraltet, außerdem gibt es einige klare Fehler. Eine neue Übersetzung sollte dieses klassische Werk von daher erneut verlebendigen.
Da Schachnovelle alleine zu kurz wäre, fiel mir die Novelle Die Reise in die Vergangenheit (Widerstand der Wirklichkeit) ein, deren Thema und Länge mir zur Schachnovelle zu passen schien. Dieses Werk war bis dato nicht ins Japanische übersetzt worden. Während Schachnovelle keine einzige romantische Episode enthält, ist Die Reise in die Vergangenheit eine dramatische Liebesgeschichte. Und dabei kein bloßes Melodrama, sondern eine typische Zweig-Literatur mit der Thematisierung von Krieg und Faschismus. Die Tatsache, dass diese Novelle unvollendet geblieben ist, wirkt vielleicht nochmals als ein Effekt, um die Phantasie der Leserinnen und Leser anzuregen.
Vom Deutschen ins Japanische
Der „Corona“-Sommer 2020, als ich Tokyo nicht verlassen konnte, ermöglichte es mir, die Übersetzung fortzusetzen. Zweigs Deutsch ist auch für uns Fremdsprachige eher klar zu verstehen. Sein Text schildert alles aus vielen Perspektiven, mit zahlreichen Adjektiven, seine (über-)ausführlichen Beschreibungen lassen keinen großen Raum für Missverständnisse oder verbleibende Zweideutigkeit. Dennoch war es alles andere als einfach, jeden Ausdruck ins Japanische zu übertragen, da nicht zuletzt das Deutsche und Japanische grammatisch sehr wenig gemeinsam haben. Obwohl das moderne Japanisch daraus entstanden ist, dass sich die ältere Sprache im Prozess der Übersetzung europäischer Texte, u.a. von deutschen, stark gewandelt hat, besitzt es dennoch eine grundsätzlich ganz anderes Sprachsystem als das Deutsche.
Es fiel mir nicht allzu schwer, einen deutschen Satz zu verstehen und ihn in einen japanischen Satz gleichen Sinns umzuschreiben. Doch wollte ich es möglichst vermeiden, dass ich mich dadurch von Zweigs eigentlichem Stil zu weit entfernte. Wenn er in seinen für ihn typischen rhythmischen Zeilen mehrere Ausdrücke ähnlicher Bedeutung wiederholt, so muss ich auch für jeden Ausdruck dieser Reihe ein anderes Wort finden. Was er mit drei Adjektiven schreibt, kann ich auch nur mit drei Wörtern sagen. Und zudem muss beachtet werden: Ein deutscher Satz darf ziemlich lang sein, denn man kann ihn mithilfe des grammatischen Geschlechts und Kasus richtig verstehen. Ein japanischer Satz wird dagegen sofort vage und nicht ausreichend verständlich, wenn er sich in die Länge zieht. Komplizierte und unklare Sätze wären kein Stefan Zweig mehr. Das Übersetzen ist demnach nichts anderes als ein Ringen mit den Grenzen und auch Möglichkeiten der eigenen Sprache.
Historische Hintergründe und „das Fremde“
Hinsichtlich der Schachnovelle sind die historischen Hintergründe in Japan nicht sehr bekannt. Auch vom „Anschluss“ wissen die meisten Japaner nur wenig. Ich denke zwar nicht, dass man viele Kenntnisse besitzen muss, um solch eine Novelle genießen zu können, denn auch meine waren sehr begrenzt, als ich das Werk zum ersten Mal las. Aber ganz ohne Wissen kann man weder die Bedeutung der Erlebnisse Dr. Bs noch die Figur des Erzählers, der wie Zweig selber Exilant sein mag, verstehen. Deshalb erklärte ich kurz als Nachbemerkung einige geschichtliche Fakten in Bezug auf den „Anschluss“ und die in der Novelle erscheinenden oder erwähnten historischen Personen.
Manche scheuen sich, solche Literatur zu lesen, deren geschichtliche Hintergründe ihnen fremd erscheinen. Doch für mich ist es eine der größten Freuden bei der Lektüre ausländischer Literatur, im bisherigen Leben unbekannten Zeiten und Orten zu begegnen und die Menschen psychologisch zu verstehen, und zwar insbeosndere durch einen geschickten Erzähler wie Stefan Zweig. Dasselbe kann man auch zur Sprache selbst sagen, bei der die Wichtigkeit des Fremden zu betonen ist (und nicht der Fremdheit – im Sinne Wilhelm von Humbolds): Ich würde es nicht für die beste Übersetzung halten, die es uns erlaubte, ein fremdes Werk so zu lesen, „als ob es auf unserer Muttersprache geschrieben wäre“ – also ohne Hemmungen oder Befremdungen. Stefan Zweig, der als junger Literat ebenso Übersetzer war, muss sehr wohl gewusst haben, was für eine Freude es ist, durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden eine neue Welt der Sprache entstehen zu lassen, sie zu lesen und zu genießen.
Stefan Zweig und die Welt von heute
Da mir zu den zwei Novellen ein ziemlich langes Nachwort gestattet wurde, schilderte ich das Leben Stefan Zweigs und seine Idee der „inneren Freiheit“, die ich bereits in meiner Dissertation thematisiert hatte. Ferner erklärte ich die Hintergründe der Entstehung der beiden Novellen und meine Interpretationen dazu. Erwähnt wurde auch etwas Zeitgenössisches: Wie auch Ludwig und seine Geliebte (Die Reise in die Vergangenheit) durch den Weltkrieg zwischen Mexiko und Deutschland getrennt werden, so waren wir vor gar nicht langer Zeit aufgrund der ungeheuren Pandemie ebenfalls lange voneinander distanziert: „[…] so wüteten ja Millionen machtloser Menschen jetzt gegen die Kerkerwand des Schicksals.” Und analog zu Dr. B. (Schachnovelle) mussten wir lange eingesperrt leben, grau und einsam Tag für Tag. Schreibend war ich erstaunt darüber, wie aktuell Zweigs Worte in dieser abgespalteten und vereinzelten Welt von heute klingen. Zweig verfügt über eine große Möglichkeit – so wurde mir noch einmal klar –, viel breiter gelesen zu werden. Oder sogar: Er muss gerade heute gelesen werden, und zwar auch in unserem Land.
Am Ende dachte ich trotz des in den zwei Werken dargestellten Pessimismus` (der vielleicht auch Zweigs Herz bei seinem Freitod beherrschte), dass wir nun von ihm Worte der Hoffnung erhalten sollten. So ließ ich den Band mit dem folgenden Zitat schließen:
Immer muß es erst dunkel werden, damit wir erkennen, wie glorreich die ewigen Gestirne über unseren Häuptern stehen. So mußte auch erst diese dunkle Stunde über uns kommen, vielleicht die dunkelste Stunde der Geschichte, damit wir erkannten, daß die Freiheit von unserer Seele so unlösbar ist wie der Atem von unserem Leibe. […] So laßt uns zusammenstehen, laßt uns diese Pflicht mit unserem Werk und unserem Leben erfüllen, jeder in seiner Sprache, jeder für sein Land. Nur wenn wir uns selber treu bleiben in dieser Stunde und treu zugleich einer dem andern, haben wir in Ehren unseren Dienst getan. (Stefan Zweig: In dieser dunklen Stunde, 1941)
Die Reise in die Vergangenheit / Schachnovelle wurde im Juni 2021 veröffentlicht. Ich hoffe, dass ich mit diesem Band einen hilfreichen Beitrag dazu leisten kann, dass die Menschen in Japan den großen österreichischen Autor Stefan Zweig kennen lernen und die Faszination seiner Literatur auch selbst erleben.