von Martin Kasperzyk
Um gleich mit dem Ende anzufangen: was war das doch für ein wunderbarer und unvergesslicher
Theaterabend! Man muss es so euphorisch sagen: wer die Premiere dieses Schauspiels am 29.
September im Wiener Burgtheater miterleben durfte, wurde Zeuge eines grandiosen Ereignisses.
Nach der zweistündigen Vorstellung kam es zu minutenlangem Applaus, Bravorufen und Standing
ovations – und das völlig zu Recht. Selbst der Schauspieler Nils Strunk bekannte danach, dass er einen
solch frenetischen Applaus noch nie erlebt habe. Und wer danach noch im Theatersaal ausharrte, um
sich der besonderen Atmosphäre dieses Abends nicht gleich zu entziehen oder wer noch benommen
war von dem, was da zuvor geschehen ist, der konnte den spielfreudigen Schauspieler, der mit seiner
Band lange nach der Vorstellung noch einmal auf die Bühne zurückkehrte, erleben und sehen, wie sie
enthusiastisch weiter spielten, während die Bühnenarbeiter die Bühne bereits abräumten – bis
schließlich dann doch Mikrofon und Licht abgestellt wurde. Irgendwann ist auch der schönste
Moment vorbei.
Nils Strunk inszenierte zusammen mit Lukas Schrenk Stefan Zweigs Schachnovelle mit sich selbst in
allen Rollen und am Klavier fast als eine One-Man-Show. Er wurde dabei nur von einer vierköpfigen
Jazzband, bestehend aus einem Schlagzeuger, einem Bassisten und einem Posaunisten, begleitet. Der
in Lübeck geborene Schauspieler, der seit 2021 dem Ensemble des Burgtheaters angehört, brachte
die Schachnovelle ohne größere Ergänzungen, gekürzt, aber fast wortgetreu auf die Bühne. Ihm
gelang dabei eine einmalige musikalische Interpretation der Geschichte, eine gelungene Umsetzung
der 64 Felder des Schachbretts in die 88 Tasten des Klaviers.
In dieser Inszenierung wurde aus einem scheinbar so trockenen Spiel eine emotional-witzige
Vorstellung. Strunk spielte mindestens vier Figuren, oft schnell abwechselnd: den Erzähler, einen
Gelegenheitsspieler; den Schachweltmeister Mirko Czentovic, auf dumpfe bäuerliche Weise
konzentriert aufs Spiel fixiert; den reichen, geradezu lächerlich ehrgeizigen Amateur McConnor, und
schließlich Dr. B., die wahre Hauptfigur, genial und nervös. Schach hatte ihn in seiner Gestapohaft
gerettet. Allerdings um den Preis des Wahnsinns: denn Dr. B. hat unzählige Partien im Kopf gegen sich
selbst gespielt und sich auf unerträgliche Weise vervielfacht.
Um alle diese Figuren zu spielen, brauchte der Schauspieler nur sein Sakko anders anziehen oder eine
Brille aufsetzen oder seine Sprachmodulation ändern. Er sprach abwechselnd mit amerikanischem,
mit slawischem und österreichischem Akzent, und sprang so gekonnt von einer Existenz in die andere.
Großartig wie er das intensive und verzweifelte Nachdenken der Schachspieler und der Kiebitze am
Schachbrett darstellte. Das war hoch temporeich und witzig. Das Ganze ging sogar bis zum
gelungenen Slapstick als Nils Strunk mit der tückischen Mechanik eines Liegestuhls kämpfte. Das
Tempo wurde auch beschleunigt durch die rasanten Songs seines Kollegen Lukas Schrenk, der dieses
Stück mit entwickelt hat.
Es mag sein, dass die bedrohliche Tiefe des Stückes, die Gestapohaft von Dr. B. und das Nichts, vor
dem er sich in der Haft gestellt sah, etwas zu kurz kam, aber der Ernst stand doch immer im
Hintergrund und verschwand nie. Denn die meisten Zuschauer dürften die Novelle von Stefan Zweig
kennen und brauchen hier keine Nachhilfe. Sicher, die Geschichte, die sich auf dem Ozeandampfer
von New York in Richtung Buenos Aires ereignete, wurde ungemein leichtfüßig, aber doch auch
äußerst beklemmend erzählt, besonders als Dr. B. seine Leidensgeschichte als Gefangener der
Gestapo ab 1938 in einem Wiener Hotel erzählte. Die düstere Stimmung wurde durch Lichteffekte
und die entsprechende Musik gekonnt verstärkt.
Nils Strunk als Mann für alles schob selbst die Tische, das Klavier und die Kulissen hin und her, so dass
die Anmutung einer erfreulich kargen Inszenierung entstand. Wie er nach der Vorstellung verriet, war
dies ein Einfall, der dem Intendanten erst während der Proben kam.
Nils Strunk und sein Kollege Lukas Schrenk können wahrlich nicht als Freunde des Regietheaters
verstanden werden, sie verstehen Theater vielmehr als Symbiose von großer Schauspielkunst mit
Musik und legen Wert auf die Reduktion aufs Wesentliche. So erinnerte das Stück manchmal an eine
Musikrevue, etwa wenn es darum ging, das Durcheinander bei einer Partie Simultanschach in Töne zu
übersetzen. Dabei scheute die Inszenierung nicht, ein breites Musikrepertoire von „Alle meine
Entlein“ bis zu „As Time Goes By“ einzusetzen. Und als Dr. B. von den Nazis verhört wurde, imitierte
die Posaune im Dialog den enervierenden Fragesteller.